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Verwegene Hingabe

Der „kleine Weg“ der Thérèse de Lisieux

Wer sich auch nur ein wenig mit den Heiligen der katholischen Kirche beschäftigt, kommt an ­Therese de Lisieux nicht vorbei. Sie ist eine der bekanntesten und beliebtesten Heiligen; dazu ­Kirchenlehrerin, Patronin der Weltmission und Autorin einer der meistverkauften christlichen Autobiografien.
Ich muss zugeben, als ich die mir damals fremde Welt der Heiligenverehrung nach und nach entdeckte, habe ich diese sanfte, junge Nonne, die mir von Fotos, Bildern oder als Statue meist mit Kruzifix und Rosen im Arm lieblich entgegen­lächelte, maßlos unterschätzt.
Auch ein erster Blick auf ihre Lebensdaten konnte mir nicht erklären, warum Thérèse laut Papst Pius X. die größte Heilige der Neuzeit sein soll: Sie wird am 2. Januar 1873 geboren. Ihre Mutter stirbt früh und Thérèse und ihre vier älteren Schwestern wachsen in einem frommen, gut bürgerlichen und behüteten Umfeld bei ihrem Vater in der französischen Stadt Lisieux auf. Mit fünfzehn Jahren tritt sie in das Kloster der Karmelitinnen in ihrer Heimatstadt ein, in dem bereits ihre zwei älteren Schwestern leben. Dem häuslichen, eher zurückgezogenen Leben in ihrer Kindheit folgen neun Jahre in der Abgeschiedenheit des Karmel. Mit nur 24 Jahren stirbt Thérèse an Tuberkulose.

Ein frommes Kind aus einer frommen Familie, eine Ordensschwester, eine Heilige – in Ordnung. Aber die größte Heilige der Neuzeit? Kirchenlehrerin und Patronin der Weltmission?

Geschichte einer Seele

Dann las ich ihre Selbstbiographie „Geschichte ­einer Seele“ und nach der Gewöhnung an einen eher emotionsbetonten und – im wahrsten Sinne des Wortes – blumigen Schreibstil einer jungen Französin des 19. Jahrhunderts, trafen Begriffe wie Mut, Wagnis, Scharfsinn und Verwegenheit immer besser auf Thérèse zu, als ich bei meinem ersten Eindruck einer mädchenhaften, naiven, kindlichen, fast kindischen Art vermutet hatte. Sie beschreibt ihre Wandlung von einem überempfindlichen, verwöhnten Kind, das zweitweise sogar unter einer (wahrscheinlich) psychosomatischen Krankheit leidet, hin zu einer jungen Frau, die ihren berühmten „kleinen Weg“ entdeckt und mutig beschreitet.
In Thérèse brennt eine große Sehnsucht, für Jesus alles sein und tun zu wollen. Sie möchte Märtyrer werden, Missionar, Priester, Prophet. Es drängt sie zu großen Taten, wie etwa ihr großes Vorbild, die hl. Jeanne d’Arc. Aber sie ist schwach und zudem ist ihre Berufung als Karmelitin eine andere.

Daher wählt sie ihren „kleinen Weg“ des Vertrauens, der Hingabe und der Liebe. Diesen vergleicht sie mit einem Aufzug, der einem die Mühe des Treppensteigens erspart. Und der letztendlich nichts anderes ist als Jesus selbst und seine Barmherzigkeit. Thérèse kann ihre eigene Unvollkommenheit und ihr Unvermögen offen ansehen und „klein bleiben“ vor Gott. Sie verzweifelt wegen ihrer Schwachheit nicht, sondern hofft umso mehr auf Gottes Gnade und wird immer offener für sie.

Nach weltlichen Maßstäben hat sie mit diesem verborgenen Leben des Gebets im Karmel nichts Großartiges geleistet. Doch ihr kleiner Weg ist absolut kein Weg in die Passivität.
Von ihr selbst festgehaltene oder von ihren Mitschwestern überlieferte Anekdoten aus ihrem ­Leben zeigen, wie Thérèse diesen Weg auch in den kleinsten Alltagbegebenheiten, vor allem im zwischenmenschlichen Verhalten umsetzt.

Besonders eindrücklich wird dies in den letzten Monaten ihres Lebens. Während sich ihre ­Gesundheit immer mehr verschlechtert, leidet sie auch unter einer großen inneren Dunkelheit und Anfechtungen. Sie, deren Ziel es schon als kleines Kind war, eine Heilige zu werden und in den Himmel zu kommen, zweifelt plötzlich an dessen Existenz und spürt Gottes Nähe nicht mehr.

Trotz dieser tiefen „Nacht des Nichts“1 hält Thérèse am Glauben fest. Sie sieht darin sogar Gottes Barmherzigkeit, da diese Prüfung alles wegnimmt, was ihrem „Verlangen nach dem Himmel noch an natürlicher Befriedigung anhaften könnte.“2

Um deutlich zu machen, warum die hl. Thérèse von Lisieux für mich eine großartige Schwester im Glauben und ein außerordentliches Vorbild im Vertrauen geworden ist, ist es am einfachsten, sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Mit dem ­folgenden Abschnitt endet ihre Autobiografie, die sie im Auftrag ihrer Priorin niedergeschrieben hat. Es sind Gedanken zu einem Vers aus dem Hohelied: Ziehe mich an dich, wir werden eilen (Hld 1,4).

Eins mit dem Feuer

Was bedeutet denn die Bitte, Angezogen zu werden anderes, als sich aufs innigste mit dem Gegenstand vereinen zu wollen, der das Herz in Bann schlägt? Wenn Feuer und Eisen vernunft­begabt wären, und dieses zu jenem sagte: Ziehe mich an, bewiese das nicht, dass es mit dem Feuer so eins sein möchte, dass dieses es durchdringe und durchtränke mit seiner brennenden Substanz und nur mehr eins scheine mit ihm. Vielgeliebte Mutter3, das ist mein Gebet, ich bitte Jesus, mich in die Flammen seiner Liebe hineinzuziehen, mich so innig mit Ihm zu vereinen, dass Er in mir lebe und wirke. Ich fühl’ es, je mehr das Feuer der Liebe mein Herz durchglüht, je mehr ich zu sagen vermag: Ziehe mich an dich, umso mehr werden auch die Seelen, die sich mir nahen werden (einem armseligen, unnützen Stückchen Eisen, sobald ich mich vom göttlichen Glutofen entfernte), mit Geschwindigkeit dem Duft der Wohlgerüche ihres Viel-Geliebten nacheilen, denn eine von Liebe entflammte Seele kann nicht untätig bleiben; gewiss sitzt sie wie die Hl. Magdalena zu Füßen Jesu, sie lauscht seinem süßen, feurigen Wort. Sie scheint nichts zu geben und gibt doch viel mehr als Martha, die sich um viele Dinge plagt [vgl. Lk 10,41] […] Alle Heiligen haben das begriffen und eindringlicher noch vielleicht jene, die das Weltall mit der Erleuchtung der evangelischen Lehre ­erfüllten. Ein Paulus, Augustinus, Johannes vom Kreuz, Thomas von Aquin, Franziskus, Dominikus und so viele andere erlauchte Freunde Gottes, schöpften sie nicht alle ihre Göttliche Erkenntnis, welche die größten Geister entzückte, aus dem Gebet? Ein Gelehrter hat gesagt: „Gebt mir einen ­Hebel, einen Stützpunkt, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.“ Was Archimedes nicht erreichen konnte, weil seine Forderung sich nicht an Gott richtete und nur das Stoffliche betraf, das erlangten die Heiligen in seiner ganzen Fülle. Der Allmächtige gab ihnen als Stützpunkt: GOTT SELBST und GOTT ALLEIN; als Hebel: Das Gebet, das mit einem Liebesfeuer entflammt, und auf diese Art haben sie die Welt aus den Angeln gehoben; und auf diese Art heben die heute streitenden Heiligen sie aus den Angeln, und bis  zum Ende der Welt werden es die künftigen Heiligen ebenfalls tun.
Meine geliebte Mutter, nun möchte ich Ihnen ­sagen, was ich unter dem Duft der Wohlgerüche des Viel-Geliebten verstehe. Da Jesus wieder in den Himmel aufgestiegen ist, kann ich ihm nur auf den Spuren folgen, die Er hinterlassen hat, aber wie leuchtend sind diese Spuren, wie duftend! Ich brauche die Augen nur auf das Hl. Evangelium zu werfen, sogleich atme ich den Wohl­geruch des Lebens Jesu und weiß, nach welcher Seite ich laufen muss … Nicht zum ersten Platz, nein zum letzten eile ich hin; statt mit dem Pharisäer vorzutreten, wiederhole ich voll Vertrauen das demütige Gebet des Zöllners; vor allem aber ahme ich das Verhalten Magdalenas nach, ihre ­erstaunliche oder vielmehr ihre liebende Kühnheit, die das Herz Jesu entzückt, reißt das meinige hin. Ja, ich fühle es, hätte ich auch alle begehbaren Sünden auf dem Gewissen, ich ginge hin, das Herz von Reue gebrochen, mich in die Arme Jesu zu werfen, denn ich weiß, wie sehr er das ver­lorene Kind liebt, das zu ihm zurückkehrt. Nicht deshalb, weil Gott in seiner zuvorkommenden Barmherzigkeit meine Seele vor der Todsünde bewahrt hat4, erhebe ich mich zu Ihm im Vertrauen und in der Liebe.5

Den Weg des vollkommenen Vertrauens und der Liebe bewahrt Thérèse auch die nächsten zweieinhalb Monate, obwohl die innere Dunkelheit und Trostlosigkeit andauern und sie starke körperliche Schmerzen hat. Auch ihre Heiterkeit und ihren Humor verliert sie dabei nicht. Davon zeugen unter anderem die Aufzeichnungen ihrer Mit­schwester und leiblichen Schwester Céline, die Thérèses letzte Wochen tagebuchartig festhält.6 Am 30. September 1897 stirbt Schwester Thérèse vom Kinde Jesus und vom heiligen Antlitz. Ihre letzten Worte im Todeskampf: „Mein Gott, ich ­liebe dich!“

Anmerkungen:
1 Thérèse von Lisieux, Selbstbiographie. Johannes Verlag, Einsiedeln 161958. S. 221.
2 Ebd. S. 223.
3 Gemeint ist ihre Priorin
4 Thérèses Beichtvater hatte ihr versichert, nie eine Todsünde begangen zu haben. Ihre Zuversicht gründet jedoch nicht auf dieser „zuvorkommenden Barmherzigkeit“, sondern auf Gottes Gnade an sich, die sie selbst dann retten würde, wenn sie alle denkbaren Sünden begangen hätte.
5 S. 273ff. Leicht gekürzt.
6 Vgl. Céline Martin, Thérèse von Lisieux. Erinnerungen an meine Schwester. Johannes-Verlag Leutersdorf 2003. S. 144ff.
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Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2023: Ganz im Vertrauen
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