Alexander Solschenizyn: Ohne mich! Was immer du tust – nicht mitlügen!

Ohne mich! Was immer du tust – nicht mitlügen!

Alexander Solschenizyn –

Wer kennt das nicht, die Versuchung, miteinzustimmen in die Verurteilung eines Kollegen, den Hang, in der Gruppe mit den Wölfen zu heulen, und gar nicht erst nachzudenken, ob etwas richtig oder falsch ist, wenn es doch die Mehrheit tut? In der Familie ist einer der Sündenbock, in der Klasse wird einer gehänselt oder ausgeschlossen. In der Gesellschaft und leider auch in Kirchen und Gemeinden darf oft nur noch eine Meinung vertreten werden – und man braucht Stehvermögen und Charakter, um dem Trend der Mächtigen zu widerstehen. Einer, der das sein Leben lang getan hat – ob im Osten oder im Westen – war Alexander Solschenizyn, russischer Schriftsteller und Systemkritiker. Sein literarisches Hauptwerk „Der Archipel Gulag“ beschreibt die Verbrechen des stalinistischen Regimes der Sowjetunion bei der Verbannung und Ermordung von Millionen Menschen im Gulag. An dem Tag, an dem er deswegen verhaftet wurde, dem 12. Februar 1974, ­veröffentlichte er diesen Text „Lebt nicht mit der Lüge“. Am nächsten Tag wurde er in den Westen verbannt, wo er begeistert empfangen wurde. Seine Einsichten von damals als Mann des Widerstands haben uns bis heute etwas zu sagen, denn sie sprechen von tiefen menschlichen Übeln, von Macht und Machtmissbrauch, von Lüge und Heuchelei und unserer scheinbaren Ohnmacht, auch wenn Solschenizyn sich am Ende seines Lebens schwierigen Überzeugungen anschloss. (red)

Wenn die Gewalt in das friedliche menschliche Dasein einbricht, zeigt sie ihre Fahne und verkündet: „Ich bin die Gewalt! Macht Platz, tretet zur Seite, ich werde euch zermalmen!“ Aber die Gewalt altert schnell, ein paar Jahre vergehen – und sie ist sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Um sich zu stützen, um anständig zu erscheinen, wird sie unbedingt ihren Verbündeten herbeirufen – die Lüge. Denn die Gewalt kann sich nur mit Lügen bedecken, und Lügen können nur durch Gewalt aufrechterhalten werden. Und nicht jeden Tag und nicht auf jeder Schulter legt die Gewalt ihre schwere Hand an: Sie verlangt von uns nur die Unterwerfung unter die Lüge, die tägliche Teilnahme an der Täuschung – und das genügt als unsere Loyalität. Und darin finden wir, von uns vernachlässigt, den einfachsten, den zugänglichsten Schlüssel zu unserer Befreiung: die persönliche Nichtteilnahme an der Lüge. Selbst wenn alles von Lügen bedeckt ist, selbst wenn alles unter ihrer Herrschaft steht, lasst uns im Kleinsten Widerstand leisten: Lasst ihre Herrschaft nicht durch uns gelten!

Nicht mitlügen

Hier liegt nämlich der von uns vernachlässigte, einfachste und zugängigste Schlüssel zu unserer Befreiung: SELBST NICHT MITLÜGEN! Die Lüge mag alles überzogen haben, die Lüge mag alles beherrschen, doch im kleinsten Bereich werden wir uns dagegenstemmen: OHNE MEIN MITTUN! Und das ist der Durchschlupf im angeblichen Kreis unserer Untätigkeit! – Der leichteste für uns und der zerstörerischste für die Lüge. Denn wenn die Menschen von der Lüge Abstand nehmen – dann hört sie einfach auf zu existieren. Wie eine ansteckende Krankheit kann sie nur in den Menschen existieren. Wir wollen nicht ausschwärmen, wollen nicht auf die Straße gehen und die Wahrheit laut verkünden, laut sagen, was wir denken – das ist nicht nötig, das ist schrecklich. Doch verzichten wir darauf, das zu sagen, was wir nicht glauben. (…) Unser Weg: IN NICHTS DIE LÜGE BEWUSST UNTERSTÜTZEN!

Achtung verdienen

Somit lasst uns unsere Schüchternheit überwinden, und möge jeder wählen: ob er bewusster Diener der Lüge bleibt (natürlich nicht aus Neigung, sondern um der Familie willen!), oder ob die Zeit für ihn gekommen ist, sich zum ehrlichen Menschen zu mausern, der die Achtung seiner Kinder und Zeitgenossen verdient. Und von diesem Tage an wird er:

  • in Zukunft keinen einzigen Satz, der seiner Ansicht nach die Wahrheit entstellt, schreiben, unterschreiben oder drucken;
  • einen solchen Satz weder im privaten Gespräch, noch vor einem Publikum, weder im eigenen Namen noch nach einem vorbereiteten Text, noch als politischer Redner, Lehrer und Erzieher, noch nach einem Bühnenmanuskript aussprechen;
  • in Malerei, Skulptur und Fotografie mit technischen oder musikalischen Mitteln keinen einzigen falschen Gedanken, keine einzige Entstellung der Wahrheit, die er erkennt, darstellen noch begleiten, noch im Rundfunk senden;
  • weder mündlich noch schriftlich ein einziges „Leit“-Zitat anführen, um es jemandem recht zu machen, um sich rückzuversichern, um in der Arbeit Erfolg zu haben, wenn er den zitierten Gedanken nicht vollständig teilt oder er keine klare Relevanz hat;
  • sich nicht zwingen lassen, zu einer Demonstration oder einer Versammlung zu gehen, wenn sie seinem Wunsch und Willen nicht entspricht. Kein Transparent, kein Plakat in die Hand nehmen oder hochhalten, dessen Text er
    nicht vollständig zustimmt;
  • die Hand nicht zur Abstimmung für einen Vorschlag heben, den er nicht aufrichtig unterstützt; nicht offen, nicht geheim für eine Person stimmen, die er für unwürdig oder zweifelhaft hält;
  • sich zu keiner Sitzung drängen lassen, wo eine zwangsweise entstellte Diskussion zu erwarten ist;
  • eine Sitzung, Versammlung, einen Vortrag, ein Schauspiel oder eine Filmvorführung sofort verlassen, wenn Lüge, ideologischer Unfug oder schamlose Propaganda zu hören sind;
  • keine Zeitung oder Zeitschrift abonnieren oder kaufen, in der die Information verfälscht wird und die ursprünglichen Tatsachen vertuscht werden. (…)

Wir haben selbstverständlich nicht alle möglichen und notwendigen Abweichungen von der Lüge aufgezählt. Doch wer sich um Reinigung bemüht, wird mit gereinigtem Blick leicht auch andere Fälle unterscheiden.

Nach der Wahrheit leben

Ja, zunächst wird das nicht glattgehen. Der eine oder andere wird zeitweilig den Arbeitsplatz verlieren. Jungen Menschen, die nach der Wahrheit leben wollen, wird das anfangs ihr Leben sehr erschweren: denn auch der abgedroschene Unterricht ist voller Lüge. Man muss wählen. Für niemanden aber, der ehrlich sein will, bleibt ein Versteck:

für keinen von uns vergeht auch nur ein Tag, selbst nicht in den ungefährlichsten technischen Wissenschaften, ohne zumindest einen der genannten Schritte – entweder erfolgt er in Richtung auf die Wahrheit oder in Richtung auf die Lüge; in Richtung auf geistige Unabhängigkeit oder geistiges Kriechertum.

Wer aber nicht einmal zum Schutz seiner Seele genügend Mut aufbringt, der soll sich auch nicht seiner fortschrittlichen Ansichten rühmen, soll nicht tönen, er sei Wissenschaftler oder Künstler, verdienter Funktionär oder General – der soll sich sagen: ich bin ein Herdentier und ein Feigling, ich will es nur satt und warm haben.

Sogar dieser Weg – der gemäßigtste aller Wege des Widerstandes – wird für uns Eingerostete nicht leicht sein. Doch wie viel leichter ist er als Selbstverbrennung oder Hungerstreik: die Flamme ergreift deinen Körper nicht, die Augen platzen nicht vor Hitze, und Schwarzbrot mit Wasser findet sich immer für deine Familie. (…)

Das würde kein leichter Weg? – doch der leichteste der möglichen. Keine leichte Wahl für den Körper? – doch die einzige für die Seele. Kein leichter Weg – doch gibt es bei uns bereits Menschen, sogar Dutzende, die seit Jahren alle diese Punkte durchhalten, die nach der Wahrheit leben.

Somit: nicht als erste diesen Weg beschreiten, sondern sich anschließen! Je leichter und je kürzer uns dieser Weg scheint, desto enger verbunden, in desto größerer Zahl werden wir ihn einschlagen! Werden wir Tausende sein, dann wird man keinem mehr etwas tun können. Werden wir aber Zehntausende sein – dann werden wir unser Land nicht wiedererkennen!

Wenn wir aber in Feigheit zurückschrecken, dann sollten wir die Klage lassen, jemand ließe uns nicht atmen – das sind wir selbst! Werden wir uns weiter beugen und abwarten, dann werden unsere Brüder von der Biologie dafür sorgen, dass der Augenblick naht, zu dem man unsere Gedanken liest und unsere Gene verändert.

Alexander Solschenizyn (1918-2008), russischer Schriftsteller und Dissident, wurde 1970 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Aus: Offener Brief an die sowjetische Führung, Darmstadt und Neuwied 1974.

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