Fassen, was nicht zu fassen ist – Heiter Abschied nehmen

Fulbert Steffensky –

Ich bin fast 85 Jahre alt und werde in sehr absehbarer Zeit sterben. Nicht die blanke Zahl 85 lehrt mich die Nähe des Todes, vielmehr all die Menschen, die schon tot sind: meine verstorbene Frau, der enge Freund, der im letzten Jahr gestorben ist, viele andere Weggefährten. Es lehren mich die Nähe des Todes auch die jungen Menschen, mit denen ich umgehe, durch ihre pure Jugend. Alle, die vor mir gegangen sind, sind meine Sterbe­lehrer. Indem sie gestorben sind, lehren sie mich, dass man sterben kann; dass es offensichtlich eine schwere Aufgabe ist, aber keine unmögliche. Sie haben es gekonnt, so werde ich es auch können.

Ehrlich gesagt kümmere ich mich nicht besonders um meinen Tod. Ein Vers aus dem 63. Psalm ist mein ständiger Begleiter: Deine Gnade ist mehr als Leben, meine Lippen preisen dich. Das ist genug an Sterbevorbereitung. Ich werde nicht an meiner Beerdigungsliturgie basteln, mich nicht um meinen Nachlass kümmern außer dem Notwendigsten. Die Menschen, die ich liebe, sollen nach meinem Tod keine unnötigen Unsicher­heiten haben. Ich bin eher skeptisch der intensiven Bekümmerung dem Sterben und Tod gegenüber und habe nur um eines gebeten: Dass man mir bei meinem Sterben Paul Gerhardts „Wenn ich einmal sollt scheiden“ singt. Ich habe es meiner Frau an ihrem Sterbebett gesungen; sie hat es ihrer Mutter beim Sterben gesungen. Das ist eine tröstliche Kette, in der ich gerne ein Glied bin.

Habe ich Angst vor dem Tod und dem Sterben? Ich neige dazu, nein zu sagen. Aber keiner weiß, ob die Ängste einen nicht doch überfallen, wenn es ans bittere Ende geht. Wir sind weniger Herren über uns selbst, als wir annehmen. Sollte die ­späte Angst kommen, so muss auch diese durchstanden werden. … Natürlich wünsche ich für mein Sterben, dass es nicht zu qualvoll ist; dass ich den Menschen, die ich liebe, nicht zu lange eine unerträgliche Last bin. Aber das ist nicht in meiner Hand. Dass es nicht in meiner Hand liegen muss, ist eine meiner Freiheiten.
Drei Dinge möchte ich intensiver lernen in meiner letzten Lebenszeit: Dank, Reue, Resignation.

Dank

Im späten Alter lerne ich noch eindringlicher, dass ich nicht nur ich war und bin. In mein Leben ist hineingewoben die Zuneigung von vielen Menschen. Ich war nie gezwungen, nur ich selbst zu sein; nie gezwungen, an meiner eigenen Kümmerlichkeit zu verhungern. Welch ein Glück!
Dankbarkeit ist für die Alten nicht selbstverständlich, die oft über ihre Verlustängste nicht hinauskommen. Sie bleiben in ihrer Altersbitterkeit stecken. Die Frage, die viele stellen: War dieses Stückwerk Leben alles? Hat sich das Leben gelohnt? Ich habe über längere Zeit einen alten Mann besucht, der nicht über seine Bitterkeit hinwegkam. Er ging mir mit seinen Klagen auf die Nerven und ich habe gesagt: Ich werde dich nur noch besuchen, wenn du mir am Anfang eines ­jeden Besuches fünf Minuten erzählst, was schön und gelungen in deinem Leben war, zumindest halb gelungen. Gegen seine routinierte Bitterkeit begann er zögernd aufzuzählen, welche Stadt schön war, die er gesehen hat; über welchen Menschen er froh war und was ihm an seiner Arbeit gefallen hat. Man muss auch ungeduldig sein können mit uns Alten, die nur noch ihre Verluste beklagen. Der Atem wird freier, wenn man mit Dank sieht, was uns gelungen ist und was uns geschenkt wurde.
Dankbarkeit möchte ich lernen für all das, was meine Augen gesehen, meine Ohren gehört und meine Beine erwandert haben. Das Leben ist endlich, und Ganzheiten sind uns hier nicht versprochen. Ich ehre das halbe Gelingen und lasse mich von Ganzheitsillusionen nicht beeindrucken. Wir sind Fragment. Gott ist ganz, und das genügt.

Reue

Und doch gibt es einen Schmerz, den ich nicht verlernen will, den Schmerz darüber, was man dem Leben schuldig geblieben ist. Die Reue über alle Verletzungen, die ich Menschen, Gott und mir selbst zugefügt habe. Mein Stolz verlangt es, mich aus der Geschichte meiner eigenen Verrate nicht herauszuschleichen. Ich war Subjekt in meinem eigenen Leben, Subjekt meiner Taten und meiner Untaten, das ist meine Würde. Davon lasse ich mich nicht trennen, aber ich lasse mir davon auch nicht den Atem nehmen. … Sich nicht ausweichen, sich ruhig ansehen, ohne zu verzweifeln, und sich annehmen mit dem eigenen Verrat – das wäre Lebensgröße vor dem Sterben. Aber in schmerzlicher Heiterkeit gesagt: Auch das wird uns nur halb gelingen. Wir sind Fragment.

Resignation

Eine unerlässliche Aufgabe im Alter: resignieren zu lernen. Resignieren heißt im Wortsinn, die Zeichen der Macht niederzulegen und sich ergeben. Resignation ist die Kunst, abzudanken und sich und die eigene Weltauffassung nicht für unentbehrlich zu halten. Wir Alten müssen lernen, dass unser Lebenskonzept, unsere Lebensweise, sogar die Weise unseres Glaubens endlich sind. Sie müssen nicht die Konzepte unserer Kinder und Enkel sein. Wir müssen unsere Nachkommen gehen lassen. Abdanken ist ein schönes altes Wort. Es heißt, sich mit Dank verabschieden; sich selber und die eigene Weise den anderen nicht als Diktat hinterlassen; nicht erwarten, dass sie uns ähnlich sind. … Sich ergeben können ist eine Form der Gewaltlosigkeit, die uns Alte schöner macht und die bewirkt, dass unsere Nachkommen mit Güte und Zärtlichkeit an uns denken können.

Was wird nach meinem Tod sein? Ich weiß es nicht, und ich muss es nicht wissen. Aber wenn Gott lebt, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass unsere Tränen umsonst geweint wurden und dass die Opfer ungetröstet bleiben. Es gibt billige reli­giöse Tröster, die die Wichtigkeit unseres hiesigen Lebens wegerklären mit dem Versprechen der ewigen Seligkeit. Es gibt aber auch eine Kaltschnäuzigkeit, die unseren Hunger nach der endgültigen Bergung des geschundenen Lebens diskreditiert und als kindisch betrachtet. … Die Antwort der puren und leidenschaftsfreien Aufklärer ist mir einfach zu bescheiden, und so wiederhole ich das Versprechen, dass Gott einmal alles in ­allem sein wird und wir in ihm.

Alter

Im Alter, in der Krankheit und in der Nähe des Todes lernt man am tiefsten, dass man sich nicht in der eigenen Hand bergen kann. Der alte Mensch ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er ist angewiesen und braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, umso bedürftiger ist es; umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Alt sein heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Wir Alten müssen uns ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selbst aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen; aber vielleicht ein Anfang davon vielen. Das ist nicht leicht in einer Gesellschaft, deren Ideal die Unabhängigkeit ist.

Halbheit

Die erste Folge der eingestandenen Bedürftigkeit, wäre es, sich als Ganzer im Fragment zu erkennen. Gegen die Chaosängste alter Zeiten gab es immerhin den Glauben, dass Gott das Zerbrochene ansieht und sich ihm zuneigt. Man war also nicht völlig auf die eigene Ganzheit angewiesen. Die Ganzheitszwänge steigen, wo der Glaube schwindet. Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Er muss nicht der Gesündeste, Stärkste, Schönste, Erfolgreichste sein. Wo aber der Glaube zerbricht, ist dem Menschen die nicht zu tragende Last der Verantwortung für die eigene Ganzheit auferlegt. Es wächst ein merkwürdiges neues Leiden, das durch überhöhte Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber entsteht. Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt glücklich sein. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Aber in der Nähe des Todes wissen wir endgültig, dass man mit der eigenen Kraft allein alsbald verloren ist. Darauf kann man mit Verzweiflung reagieren oder aber man kann einstimmen in die eigene ­Bedürftigkeit.

Sterbehilfe

Die Zustimmung dazu, Fragment zu sein, gilt übrigens nicht nur für die Alten, es gilt auch für die, die Alte und Kranke pflegen. Gnade denken heißt, den Mut zu fragmentarischem Handeln zu finden; nicht unter beruflichen Siegeszwängen zu stehen. Sind die Ärzte und Pfleger, die Ärztinnen und Pflegerinnen, die mit Sterbenden umgehen, fähig, das Sterben eines Menschen nicht als eigene Nieder­lage zu betrachten? Es ist schwer, sich die eigene Ratlosigkeit einzugestehen und es besteht immer die Gefahr, nur um der eigenen Resigna­tion und Hilflosigkeit zu entgehen, irgendetwas zu tun. Das Sterben ist schwer. Schwer ist auch, ­jemanden sterben zu lassen, und dies nicht nur für Angehörige.

Ich kann mich nicht dazu durchringen, eine ­ak­tive Sterbehilfe im Sinne der holländischen ­Gesetzgebung zu leisten. „Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen!“, so der Bundespräsident Horst Köhler. Wir sind nicht die Macher des Lebens. Wir sind nicht die Herren über Leben und Tod. … Zum Verzicht auf die eigenen ­Machenschaften gehört auch das Einverständnis mit dem Sterben und dem Tod. … Der Tod gehört zu uns, Franz von Assisi hat ihn Bruder Tod ­genannt. Er ist nicht nur unser Todfeind. Ich will Krankheit, das Alter und das Sterben nicht ­romantisieren. Aber vielleicht gibt es gelegentlich das Recht des Kranken auf seine Krankheit und auch das Recht der Alten auf ihren Tod. …

Fragment

Eine alte Lehrerin, fromm und dem Tode nahe, kam gegen das Gefühl ihrer Lebensschuld nicht mehr an. Sie war eine gute Lehrerin, hingegeben an ihre Arbeit und an Menschen. Trotzdem war sie gequält von Gefühlen, dem Leben alles schuldig geblieben zu sein. „Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich im Leben falsch gemacht habe“, sagte sie. Sie konnte sich selbst nicht freisprechen und hielt es nicht aus, zu sein, die sie war. Aber am Ende sind wir, die wir sind – mit allen Wunden, mit aller Schuld, mit allem Gelingen. Gnade heißt: Ich muss kein Urteil über mich ­sprechen, weder ein gutes noch ein verdammendes. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich kann zustimmen, dass ich bin, der ich geworden bin, auch mit meiner Schuld. … Wir müssen uns nicht selbst bezeugen, nicht durch unsere eigene Unversehrtheit, Ganzheit und Unschuld. Wir können Fragment sein, Fragment auch in unseren Tugenden.

Heiterkeit

Einer meiner Lieblingssätze aus dem Römerbrief (8, 16) ist: Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Kann man mit diesem wunderbaren Satz „der Geist bezeugt uns, nicht wir uns selbst“ nicht alle Versuche der Selbstrechtfertigung ausräuchern? Es ist eine der schwersten Aufgaben, an die Gnade zu glauben und die Selbst‐Hinrichtung zu unterlassen. Es ist die Kunst, sich selbst zu vergessen. Das vertreibt nicht den Schmerz über das Stückwerk Leben. Aber könnte es nicht eine Grund‐Heiterkeit geben, die dem Schmerz seine bannende Kraft nimmt? … Wir sind, die wir sind, am Ende unseres Lebens, mit Narben bedeckt und angesehen vom Blick der Güte. Sich in der Selbst‐Hinrichtung einzurichten ist eine Art negativer Eitelkeit, in der man die eigene Schuld für größer und gewichtiger hält als Gott selbst. Mehr und größer als sich selbst zu beweinen, ist, sich selbst zu be­lächeln. Und Gott lächelt mit.

Am Ende steht der Name Gottes, am Ende unserer Arbeit und am Ende unseres Lebens. Alt werden heißt erkennen, dass wir nicht genug sind, nicht einzeln und nicht wir alle zusammen. Der Name Gottes ist unsere große Erleichterung: Wir müssen nicht genug sein. Die Last der Welt liegt nicht auf unseren Schultern. Wir können in ­Heiterkeit Fragment sein. Das gibt unserem Leben Spiel, dass wir selber nicht alles sein müssen.

Prof. Dr. Fulbert Steffensky lehrte Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik in Bochum und Hamburg. Heute lebt er in der Schweiz.
Aus: Fragmente der Hoffnung, Radius-Verlag, Stuttgart 2019 (gekürzt)

Bild: Kay Wiliams / flickr
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