Endanfänge – Nur eine kleine Geschichte

Rachel Naomi Remen –

Ich war fünfundreißig Jahre alt, als ich zum ­ersten Mal begriff, dass es kein Ende ohne einen Anfang gibt, dass Anfang und Ende zusammengehören. Niemals endet etwas ohne einen Anfang oder fängt etwas an ohne ein Ende. Vielleicht wäre uns das stärker bewusst, wenn wir ein Wort ­dafür hätten. Ein Wort wie „Endanfang“ oder „Anfangsende“.
Lange Zeit achtete ich nicht auf die Anfänge. Das änderte sich sehr schnell, als ich nach Esalen kam. Damals hatte ich gerade gelernt, wie man Schmuck herstellt, und hatte einen silbernen Ring entworfen. Er zeigte den Kopf einer Frau, deren langes, mit Sternen besetztes Haar sich um den Finger wand und so den eigentlichen Ring bildete. Das war handwerklich nicht ganz einfach ­gewesen, und ich war stolz auf den Entwurf. Der Ring wurde gerade rechtzeitig fertig, um ihn an einem der ersten Wochenenden in Esalen zu tragen.
Er wurde allgemein bewundert und man schlug mir vor, die paar Meilen zur Küste zurückzu­fahren und den Ring einem Juwelier zu zeigen, der seine Galerie an der Straße hatte.

Obwohl es nach Regen aussah, entschloss ich mich zu dem Ausflug. Es wurde ein wunderbarer Nachmittag. Der Juwelier, ein sanfter Mann und ein begabter Künstler, bot mir Tee an, und wir unterhielten uns mindestens eine Stunde lang über das Wesen der Schönheit und über die Möglich­keiten der Kunst, die Menschen wieder an ­ihre Seele zu erinnern. Eine anspruchsvolle Konversation für eine junge Ärztin. Am Ende ließ ich meinen Ring bei ihm, damit er ihn als Muster für weitere Modelle benutzen und diese an andere verkaufen konnte. Die Rückfahrt auf der Route 1 war nicht ungefährlich. Es goss in Strömen, und der Wind blies so stark, dass ich mich anstrengen musste, mein Auto auf der Straße zu halten.
In dieser Nacht wurde die Küste von einem heftigen Sturm heimgesucht, dem letzten einer Reihe von Winterstürmen. Beim Frühstück mussten wir ohne Licht und Heizung auskommen. Ich erfuhr zu meinem Schrecken, dass wir nahezu von der Außenwelt abgeschnitten waren. Ein Stück der Route 1 nördlich von Esalen war ins Meer gerutscht. Wir würden einen Riesenumweg nach Süden ins Landesinnere machen müssen, um in das nördlich gelegene San Francisco zu kommen.

Die Galerie, in der ich meinen Ring gelassen hatte, hatte genau an dem Teil der Straße gestanden, der ins Meer gespült worden war.
Noch ganz benommen von dem Ereignis, hörte ich Stimmen in meinem Innern, die meinen Verlust kommentierten. Am lautesten war die Stimme meines Vaters: „Das wäre dir nie passiert, wenn du dich nicht von einem Wildfremden hättest ausnutzen lassen, der nur von deinem Entwurf profitieren wollte. Wie dumm du sein kannst, du – eine studierte Ärztin!“ Und meine Mutter: „Du bist so leichtsinnig! Dir kann man einfach nichts Wertvolles anvertrauen. Immer vergisst und verlierst du alles.“ Dazwischen meldete sich ein sehr kindlicher Teil meines Selbst, der unverwandt die Stelle am Finger anstarrte, wo gestern noch der Ring gesessen hatte, und immerzu fragte: „Wo ist er? Genau hier war er.“
Von solchen Gedanken gepeinigt lief ich zu den Klippen und schaute hinaus auf den Pazifik, der vom gestrigen Sturm noch aufgewühlt war. ­Irgendwo da unten war mein Ring. Als ich sah, wie das Meer gegen die Klippen schlug, wurde mir klar, dass das, was sich ereignet hatte, ­natürlich und unvermeidlich war. Seit Millionen von Jahren wurde immer wieder Land ins Meer gerissen. Vielleicht irrten sich diese altvertrauten tadelnden Stimmen in meinem Innern. All das hatte gar nichts mit mir zu tun, sondern war Teil eines viel größeren Prozesses.
Ich betrachtete wieder die Stelle an meinem ­Finger, wo der Ring gesessen hatte. Diesmal sah ich wirklich eine leere Stelle. Zum ersten Mal in meinem Leben erfüllte mich ein Verlust mit Neugier.

Was würde kommen, um diese leere Stelle zu füllen? Würde ich einen anderen Ring anfertigen? Oder würde ich in einem Secondhandladen oder auf einer Reise ins Ausland einen anderen Ring finden? Vielleicht würde mir irgendwann einmal jemand, den ich noch nicht kannte, einen Ring schenken, weil er mich liebte.

Ich war fünfunddreißig Jahre alt und hatte noch immer nicht gelernt, dem Leben zu vertrauen. Ich hatte niemals irgendwelche leeren Stellen zugelassen. Wie meine Familie hatte ich geglaubt, dass leere Stellen auch leer blieben. Zu leben hatte bedeutet, sich an das zu klammern, was man hatte. Meine medizinische Ausbildung hatte mich in meiner Haltung, Verluste um jeden Preis zu vermeiden, noch bestärkt. Alles, was ich jemals losgelassen hatte, zeigte bleibende Spuren meiner Umklammerung. Doch mit dieser leeren Stelle an meinem Finger verhielt es sich anders. Sie erfüllte mich mit ähnlicher Spannung und Vorfreude wie ein eingepacktes Weihnachtsgeschenk.

Rachel Naomi Remen, Ärztin und Professorin für klinische Medizin in San Francisco, engagiert sich für ein ganzheitliches Gesundheitskonzept.
Aus: Dem Leben vertrauen. Geschichten, die gut tun. München 1997, S. 187-189

Bild:©Meghan Schiereck / unsplash
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