Woran misst sich der Wert des Lebens? – Sich lieben lassen verändert alles

Clara Stern –

„Möchtest du geliebt werden? Könntest du dir vorstellen einmal zu heiraten?“ Als ich so direkt gefragt wurde, druckste ich herum und versuchte krampfhaft auszuweichen. Mir schossen die Tränen in die Augen, innerlich schrie ich auf: Nein, ich kann mir nicht einmal vorstellen, mich auch nur auf eine harmlose Freundschaft mit einem Mann einzulassen.
„Möchtest du geliebt werden?“ Mein Gegenüber blieb hartnäckig. Tausend Fragen in meinem Kopf: Was ist überhaupt Liebe? Wird mit diesem Wort nicht viel zu oft manipuliert? Gibt es nicht so viele verbreitete Trugbilder von Liebe! Und dann: Bin ich überhaupt liebenswert? Wie soll mich jemand schön finden, wenn ich mich nicht einmal selber annehmen kann? … Zu viele negative Erfahrungen stehen mir vor Augen, unzählige Situationen, in denen ich erlebt habe:
Mich auf ­jemanden einzulassen und Erwartungen zu ­haben, Gefühle auszudrücken und mich berühren zu lassen, ist riskant und führt immer wieder zu schmerzlichen Enttäuschungen. Irgend­wann hatte ich beschlossen, mich unter ­allen Umständen davor zu schützen und mir angewöhnt, meine Empfindungen zu unterdrücken, denn damit fand ich schon in meinem Elternhaus kein Gehör. Im Laufe der Jahre war ich – aus Angst vor erneuter Ablehnung und all dem anderen Beziehungs- und Herzschmerz – innerlich zu einem Eisblock erstarrt. Es fühlte sich an wie ein Leben in Isolationshaft.

Innen und Außen

Äußerlich spielte ich anderes vor: Ich bin eine glückliche Singlefrau und brauche niemanden.
Wie ein Schild trug ich diese Überzeugung vor mir her. Komplimente, auch wenn sie ehrlich ­gemeint waren, konnte ich nicht annehmen. Für die lästigen Fragen, weshalb ich denn noch nicht verheiratet sei, legte ich mir passende Antworten zurecht und verkündete sie mit einem strahlenden Lächeln. Ich gab vor, mein Leben als ledige Frau voll im Griff zu haben und irgendwann glaubte ich diese Lüge sogar selbst. Hinter meiner Fassade versteckte sich das nagende Gefühl der Minderwertigkeit, die sich niederschlug in einer dauernden Unzufriedenheit, einem ständigen Unbehagen und einer inneren Leere. Ich litt unter dem Gefühl, nicht liebenswert zu sein und empfand mein Leben letztlich sinn- und wertlos. Unvorstellbar, dass mich jemand schön und anziehend finden könnte. Doch die Sehnsucht danach ließ sich nicht beschwichtigen. Je mehr dieser Schrei aus meiner Seele ohne Antwort blieb, desto mehr versuchte ich zu funktionieren, ohne zu merken wie ich innerlich ausbrannte – spürbar in Verkrampfungen am ganzen Körper, extremem Zähneknirschen in der Nacht, häufigen Kopfschmerzen, Erschöpfungszuständen und Schlafstörungen. Ich brauchte dringend Hilfe.

Distanziert und sehnsüchtig

Meine Distanziertheit äußerte sich auch in meiner Freundschaft zu Gott. Wegen meiner starken Schmerzen lag ich ihm zwar ständig in den ­Ohren, aber im Grunde wollte ich keine Berührung mit ihm. In der seelsorgerlichen Begleitung wurde mir zunehmend klarer, dass mein Leben nur dann wertvoll ist, wenn ich in einer Beziehung bin, die voller Liebe ist und diese Liebe auch zulassen kann. Gleichzeitig verstand ich, dass ich das, was ich mir am meisten wünsche, mir nicht selbst geben kann und letztlich auch kein anderer Mensch. Heute erinnert mich mein Herz fast täglich daran, dass es für das Unendliche geschaffen ist. Meinen Durst stillen kann ich nur an der kostbarsten und unerschöpflichen Quelle, die es gibt: meiner Verbundenheit mit Gott.
Doch wie finde ich heraus aus einer formalen zu einer echten und lebendigen Beziehung mit Gott? Die seelsorgerliche Antwort lautete: „Nicht ohne mit deinen tiefsten Bedürfnissen wieder in Berührung zu kommen und dazu zu stehen.“

Nah und offen

Ich war es gewohnt zu Gott zu beten, ohne mir selbst nahe zu sein und auf mich gehört zu haben. Das Wort eines alten Mönchsvaters, Cyprian von Karthago, bringt es auf den Punkt: „Du selbst bist ja gar nicht bei dir, wie willst du, dass Gott bei dir ist? Du willst, dass Gott an dich denkt, und du selbst denkst nicht an dich.“ Es fiel mir wahnsinnig schwer zu glauben, dass Gott mit allem Berührung haben wollte, was ich an mir ablehnte und „weghaben“ wollte: Verwirrung, Einsamkeit, Scham, Abschottung, Schuldgefühle, Traurigkeit, und alles, was mein Herz sonst noch verdunkelte…
In dieser Zeit lud mich jemand zur stillen Anbetung in eine Kirche ein. Ich sollte ruhig dasitzen und „mich von Jesus anschauen lassen und ihn anschauen“. Ich war skeptisch. Beim Telefonieren mit einer Freundin erzählte ich ihr von dem mich befremdenden Angebot. Am anderen Ende wurde es still und dann sagte sie: „Jetzt bin ich mir ­sicher, dass dieser Vers für dich ist. Hör ihn dir mal an: „Alle Welt schweige in der Gegenwart des Herrn. Denn er tritt hervor aus seiner heiligen Wohnung.“ Ich bekam Gänsehaut und entschied, dieser Einladung zu folgen. In der Anbetungsstunde überkamen mich heftige Weinkrämpfe und ein Zittern am ganzen Körper; am liebsten wäre ich geflohen. Allein auf Grund der Ver­heißung zwang ich mich zu bleiben. Trotz dieser Erfahrung fühlte ich mich auch in der Zeit danach von diesem Raum des Gebetes angezogen. Ich spürte, dass Jesus mich mit seiner Liebe berühren wollte. Obwohl ich es mir so sehr gewünscht hatte ihm näher zu kommen, erlebte ich diesen inneren Zwiespalt zwischen Sehnsucht nach und Flucht vor Nähe. Genau derselbe Mechanismus wie in der Beziehung mit Menschen.

Geliebt und angenommen

Mit Hilfe seelsorgerlicher Unterstützung wachse ich durch Wahrnehmen meiner selbst in ein immer weiteres Wahrhaftigwerden. Gegen meine Gefühle entschloss ich mich, mir zuzugestehen: Ja, ich möchte geliebt werden und ich möchte ­lernen zu lieben, hat doch Gott selbst mir diese Sehnsucht ins Herz geschrieben, die ich als einen Schrei aus der Tiefe immer deutlicher höre. In diesem Raum wachsender Beziehung mit Gott entdecke ich mehr und mehr, wer ich bin, wie sehr ich gemocht und erwünscht bin, und zwar immer und in jedem Fall. Ich entdecke: wenn ich mich tief geliebt und angenommen fühle, wenn ich mir dessen bewusst bin, wie einzigartig und kostbar ich bin, dann gibt es am Ende kein Feuer, durch das ich nicht gehen kann! Mein Leben ist ein ­Geschenk! Ich habe mir ein Gebet von Romano Guardini zu eigen gemacht, das ich täglich bete:

Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand.
So ist es und so soll es sein.
Das ist meine Wahrheit und meine Freude.
Immerfort blickt dein Auge mich an,
und ich lebe aus deinem Blick,
du mein Schöpfer und mein Heil.
Lehre mich in der Stille deiner Gegenwart,
das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin.
Und dass ich bin durch dich und vor dir und für
dich. Amen.

 

Staunen und bejahen

Auf dem Weg, mich als Geschenk und als Geheimnis zu verstehen, entdecke ich mich auch als Frau. Ich beginne, meinen Körper und meine Weiblichkeit zu bejahen und mich mehr und mehr mit ihm vertraut zu machen. Ich staune, wie Gott mich ausgestattet und begabt hat. Kälte und Erstarrung weichen zeitweise zurück und ich ­spüre, dass das Leben in mir wieder zirkuliert. Ich kann meinen Wunsch nach Zärtlichkeit und Zuneigung bejahen und entwickle Fähigkeiten, Liebe auszudrücken und Liebe zu empfangen.

Werde ich heute gefragt: „Möchtest Du geliebt werden?“ antworte ich: „Ja, ich will. Ich möchte umfassend, einzigartig, unverwechselbar, immer und um meiner selbst willen geliebt werden.“
Im Blick auf den weiteren Horizont meines ­Lebens stelle ich mir von Zeit zu Zeit folgende grundlegende Fragen, die sich nur ganz persönlich beantworten lassen: Wie kann ich unter den gegebenen Umständen zur Fülle meines Ichs ­gelangen? Wie wird mein Verlangen nach Zu­neigung, Kreativität und Fruchtbarkeit zufrieden gestellt? Woher nehme ich die Energie, um den Schmerz in mir anzuschauen, ohne die Freude und den Frieden zu verlieren?
Aus der Beantwortung dieser Fragen weiß ich: Ich brauche eine Gemeinschaft von Freunden, kein Betäubungsmittel, keine Zerstreuung, kein gewalttätiges Wettrennen, um das zu kriegen, was ich haben will. Gemeinschaft ist ein Ort, an dem ich erfahren kann, was mein Leben sättigt und was mir auf meinem weiteren Weg am besten ­helfen kann.

 

Bild: ©2016 AlexAlex / photocase
Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2018: Dem JA entgegenleben!
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