Wie spät ist es in meinem Leben? – Aufmerken. durchatmen. ausrichten. weitergehen.

Waldemar Pisarski –

Ich denke an drei Übungen zur eigenen Biographie, an die „Lebensuhr“, an den „Lebensbaum“ und an die „Lebenslinie“. Wenn Sie möchten, dann nehmen Sie sich eine Zeit, in der Sie ungestört sind, und einen Ort, an dem Sie sich bequem niederlassen können.
Vorher noch eine Bitte: Wenn wir ein Wegstück unserer Biographie betrachten, dann können wir das ganz unterschiedlich tun. Viele tun es streng und kritisch. Heraus kommt eine Erfahrung, die leicht zur Selbstverurteilung führt, mehr noch, zur Selbstquälerei. Ich sehe dann nur die Defizite in meinem Leben, den Mangel, die Enttäuschungen. Ich fühle mich einsam und elend. Das ist nicht der Sinn der Übung.
Sondern es geht um eine Begegnung mit mir selbst, mit meinem Weg, mit meiner Geschichte, mit meinen Träumen. Es geht um Integration, Versöhnung und Heilwerden. Es geht darum, dass ich Ja sagen kann zu der Person, die ich nun einmal geworden bin, mit all ihren schönen und schweren Erlebnissen, mit all ihrem Glück und all ihren Schmerzen.

Freundliche Übungen

Deswegen ist wichtig, wie ich in diese Zeit hineingehe. Meine Bitte ist, dass Sie freundlich hineingehen, freundlich mit sich selbst, mit Ihrer Zeit, mit Ihrer Kraft und Ihren Grenzen.
Es ist erschienen die Freundlichkeit Gottes, lautet ein Wort aus dem Titusbrief. Wie kaum ein anderes bringt es auf den Punkt, worum es geht. Über meinem Leben steht eine große Freundlichkeit. In meinem Leben liegt eine große Freundlichkeit. Ich bin umgeben von einer großen Freundlichkeit.
Ich weiß, dass es genügend Anlass für ganz andere Erfahrungen gibt. Für Missgunst und Raffgier, Groll und Neid. So ist es. Aber mir bleibt die Freiheit, worin ich mich gründen will. Und ich will mich in der Freundlichkeit gründen, die über meinem Leben steht. Damit dies jetzt nicht nur ein Gedanke bleibt, lade ich Sie zu einer Vorübung ein:
Setzen Sie sich so bequem wie möglich hin, die Füße am Boden, die Hände ruhen in Ihrem Schoß. Bitte ziehen Sie Ihre Aufmerksamkeit für ein paar Minuten aus der Umgebung zurück und spüren Sie nach innen.
Nehmen Sie Ihren Atem wahr, das Ein und das Aus, das Ein und das Aus. Und jetzt begleiten Sie Ihre Atembewegung in der Stille mit den Worten „Freundlich atme ich ein“ und „Freundlich atme ich aus“. Eine paar Atemzüge lang „Freundlich ­atme ich ein“ und „Freundlich atme ich aus“.
Dann lassen Sie es ausklingen. Strecken und dehnen Sie sich durch. Sie gehen aus dieser Atemerfahrung heraus, bewahren sich aber diese Freundlichkeit für die folgenden Übungen.

Die Lebensuhr

Bitte überlegen Sie sich: Wie spät ist es in meinem Leben? Stehe ich am Mittag meines Lebens, am Nachmittag, am Vorabend, am Abend? Wo möchte ich die Zeiger eintragen, so dass es für mich stimmt? Wie geht es mir, wenn ich dies getan habe? Welches Gefühl, welche Empfindung kann ich benennen? Zum Beispiel: Nachdenklichkeit, Traurigkeit, Gelassenheit usw. Wie heißt mein Wort? Vielleicht mein erstes, dann mein zweites oder auch drittes Wort?
Bitte beenden Sie die folgenden Satzanfänge: Es ist zu spät, um …; Es ist noch zu früh, um …; Es ist der richtige Zeitpunkt, um …; Ich brauche Zeit, um …
Bitte kommen Sie jetzt mit sich selbst ins Gespräch. Welche Stimmen und welche Stimmungen nehmen Sie wahr?

Bitte gehen Sie bewusst aus der Übung heraus.
Lassen Sie es ein wenig nachschwingen und setzen Sie dann einen Schlusspunkt. Zum Beispiel mit der Atemerfahrung: „Freundlich atme ich ein“, „freundlich atme ich aus“. Mit einem Räkeln, Strecken, Dehnen, mit einem Spaziergang oder mit was auch immer Ihnen jetzt guttut.

Der Lebensbaum

Bitte überlegen Sie sich: Wo liegen meine Wurzeln? Was hat mich geprägt? Welche Menschen? Welche Ereignisse? Welche Früchte hat mein Leben getragen? Welche Früchte sind ausgeblieben? Wie waren die Erntezeiten? Auf welche Früchte warte ich noch? Was steht noch aus? An Lernen, an Wandlung, an Reifung?
Bitte kommen Sie jetzt mit sich selbst ins Gespräch. Welche Stimmen und welche Stimmungen nehmen Sie wahr?
Bitte gehen Sie bewusst aus der Übung heraus.
Lassen Sie es ein wenig nachschwingen und setzen Sie dann einen Schlusspunkt. Zum Beispiel mit der Atemerfahrung: „Freundlich atme ich ein“, „freundlich atme ich aus“. Mit einem Räkeln, Strecken, Dehnen, mit einem Spaziergang oder mit was auch immer Ihnen jetzt guttut.

Die Lebenslinie

Bitte tragen Sie in das linke Kästchen Ihr Geburtsjahr ein, in das rechte das Jahr heute. Benennen Sie dann über der Linie mit einem Zeichen, etwa einem Ausrufezeichen, schöne Erfahrungen in Ihrem Leben, alles, was Ihnen so einfällt. Unter der Linie tragen Sie, etwa mit einem Fragezeichen, schwere Lebenserfahrungen ein. Rufen Sie sich diese Lebenserfahrungen nochmals ins Gedächtnis:
Wie geht es mir heute mit meinen Lebenserfahrungen? Was kann ich lassen? Was arbeitet noch in mir? Wie könnte ich es lassen lernen? Wer waren die wichtigsten Menschen für mich? Wem möchte ich danke sagen? Wem möchte ich verzeihen? Wem möchte ich sagen: Vergib mir? Was steht noch an, damit ich versöhnt weitergehen kann?
Bitte kommen Sie jetzt mit sich selbst ins Gespräch. Welche Stimmen und welche Stimmungen nehmen Sie wahr?

Bitte gehen Sie bewusst aus der Übung heraus.
Lassen Sie es ein wenig nachschwingen und setzen Sie dann einen Schlusspunkt. Zum Beispiel mit der Atemerfahrung: „Freundlich atme ich ein“, „freundlich atme ich aus“. Mit einem Räkeln, Strecken, Dehnen, mit einem Spaziergang oder mit was auch immer Ihnen jetzt guttut.

Waldemar Pisarski ist evangelischer Theologe und Pastoralpsychologe. Mehrere Jahre war er Pfarrer an der
KZ-Gedenkstätte Dachau.

Aus: Waldemar Pisarski, Auch am Abend wird es licht sein. Die Kunst, zu leben und zu sterben, Claudius Verlag, München 2005, S. 83-89.

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