Wie finde ich zu neuer Kraft – Geistliches Leben als Quelle der Regenerierung

In unserer Zeit erleben sich viele Menschen vom Leben überfordert. Sie leiden unter fehlender ­Motivation und innerer Spannkraft, empfinden keine Begeisterung mehr für das, was sie tun, erleben sich innerlich ausgebrannt; das Feuer des Anfangs ist erloschen. Die heute gängige Bezeichnung dafür ist „Burnout“. Samuel Pfeifer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Schweiz, erklärt das in einem Interview1: „Wir haben heute eine deutlich höhere Quote von Menschen, die im Arbeitsprozess Beschleunigung und Leistungsdruck erleben. Alles deutet darauf hin, dass mehr Menschen an leichten Depressionen und Erschöpfungssyndromen leiden – und sich auch in Behandlung begeben. Viele Arbeitsplätze verlangen heute ständige Präsenz, ja Ausbeutung und Selbstausbeutung.“ Burnout Patienten berich­ten ihm: „Ich konnte alles, ich war so effektiv. Bis der Körper nicht mehr mitmachte.“ Der Wiener Psychiater, Psychotherapeut und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli stellte im gleichen Interview den Zusammenhang her zwischen steigendem Perfektionismus und wachsenden Ängsten in unserer Gesellschaft.

Ich selber zähle mich auch zu den Menschen, die einen Hang zum Perfektionismus haben. Im Jahr 2000 erlitt ich einen Schlaganfall, der sicher damit in Zusammenhang steht. Nur durch die Fürbitte vieler Freunde und der schnellen Diagnose und gezielten Behandlung habe ich keine Beeinträchtigung zurückbehalten. In der Reha fiel mir auf, dass alle Mitpatienten nur eines im Sinn hatten: bald wieder zum Leistungsstand vor der Erkrankung zu kommen. Mir war von Anfang an klar, dass es so nicht gehen konnte. Gleichzeitig stieg eine große Sehnsucht nach Geborgenheit in mir auf, die sich ganz von selbst verband mit Bildern und Erinnerungen aus meiner Kindheit, auch der Kirche, in der mir Gottes Liebe erstmals sehr ­nahe gekommen war. Unversehens erwuchsen daraus Entscheidungen, die zu einem unaufgebbaren Bestandteil meines Lebens geworden sind. Bei der Gründungsfeier unserer Kommunität am 13. April 2008 wurde mir das Berufungswort Jes 58,11 zugesprochen: Der Herr wird dich immer führen, auch im dürren Land macht er dich satt und stärkt deine Glieder. Du gleichst einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser niemals versiegt.

Dieses Wort unterstreicht die Richtung meines Weges und stärkt immer wieder mein Vertrauen, auch in Situationen, in denen ich Angst habe, von meinem Arbeitspensum überfordert zu sein, meiner Arbeit nicht zu genügen bzw. das von mir Verlangte nicht schaffen zu können. Gerne verbinde ich dieses Wort auch mit der diesjährigen Jahreslosung (Offb 21,6): Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Gott verspricht uns frisches, klares, lebendiges Wasser… – das kann uns alle in Berührung bringen mit unserer tiefen Sehnsucht nach Lebensfreude, Fülle, Erholung, Kraft, Klarheit, Reinheit, Schönheit, etc.

Das Wort Gottes offenbart uns: Der Ort, an dem unsere tiefsten Sehnsüchte gestillt werden, ist die Quelle des Lebens, die Quelle lebendigen Wassers ist Gott selbst. Ich hab mich dennoch gefragt: Kann ich als Mensch, der an der Hand Gottes geht, einen Burnout bekommen?

Wem gilt meine Hingabe?

Der französische Philosoph, Anthropologe und Christ Prof. Dr. Yves Semen bezeichnete den Burnout als „eine kranke Form der Hingabe, des sich Schenkens an andere: man verschenkt sich, ohne sich zu erneuern.“
In den Evangelien stoßen wir mehrfach auf das Paradox, dass wir im Uns-Herschenken alles gewinnen werden. So z. B. Mt 16,25: Denn wer sein Leben erhalten will, der wird‘s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s finden.
Sich Gott zu geben heißt demnach eben nicht, sein Selbstbestimmungsrecht zu verlieren oder seine Persönlichkeit der Vernichtung preiszugeben, sondern genau das Gegenteil: sich selbst ganz zu gewinnen. Ein Sich-Schenken also, das Lebensfülle, Lebenskraft und Lebenssinn verspricht. Aber nur Gott kann die Hingabe eines Menschen so empfangen, dass der Mensch sein Leben nicht verliert, sondern vielmehr gewinnt. Hingabe an Gott erschöpft nicht, brennt das Innere eines Menschen nicht aus, sondern erfüllt ihn beständig mit einer unerschöpflich und unab­lässig sich schenkenden Liebe. Damit sich Gottes Heilsplan in vollem Maß auch im Leben eines ­jeden gläubigen Menschen erfüllt, geben wir uns hin, stellen wir uns Gott zur Verfügung, schenken wir uns Ihm, wie er sich uns schenkt!

Die Art solcher Hingabe können wir am Beispiel Jesu deutlich nachvollziehen. In Joh 5,30 hören wir ihn sagen: Ich kann nichts aus mir selbst tun. Wie ich höre, so entscheide ich. Denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen des ­Vaters, der mich gesandt hat. Jesus will den Weg der bedingungslosen Hingabe: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe (Lk 22,42). Der Mensch Jesus hat Schluss gemacht mit der eigenen Lebensplanung und Lebensführung – nicht, weil er weniger geben wollte als das Menschenmögliche, sondern mehr. Grundsatz seines Handelns, den er bis zum bitteren Ende konsequent gelebt hat, ist: Ich will nichts mehr aus mir selbst tun. Wie ich höre, so entscheide ich. Dieser Weg erfordert die Hin­gabe unseres Eigenwillens. Hier hängt im Innersten alles zusammen. Deshalb kommt auch im Neuen Testament der Begriff des „Bereitstellens“ so häufig vor. Es geht darum, sich zur Verfügung zu stellen, es geht um die Bereitschaft, Aufträge anzunehmen, die Werke eines Größeren zu tun, aus dem Empfangenen heraus zu handeln. Gott handelt nicht ohne das Ja des Menschen. Siehe, ich bin des Herrn Magd. Mir geschehe, wie du gesagt hast (Lk 1,38) – diese Worte Marias, der Mutter Jesu, sind deshalb von vorbildlicher Bedeutung.

Wo wir nur aus dem Eigenen leben, geraten wir bei der Erledigung unserer Aufgaben leicht in ­Anspannung und erliegen dem Druck der Ansprüche von innen und außen. Mutter Teresa, von einem Journalisten auf das Geheimnis ihrer immer noch erstaunlichen Frische und ihres fruchtbaren Wirkens trotz ihres hohen Alters angesprochen, antwortete: „Mein Geheimnis ist ganz einfach: Ich bete. Und durch mein Gebet werde ich immer eins mit der Liebe Christi und sehe, dass beten ihn lie­ben, dass beten mit ihm leben heißt, und das heißt seine Worte wahr machen. … Beten heißt für mich, 24 Stunden lang eins mit dem Willen Jesu sein, für ihn, durch ihn und mit ihm zu leben.“

Liebe ist Beständigkeit

Ich werde manchmal gefragt: „Genügt es nicht, zu beten, wenn man Lust dazu verspürt?“ Meine Antwort ist an der Stelle ein entschiedenes Nein. Wer nur nach Lust und Laune betet, nimmt Gott nicht ernst. Das Gebet lebt von der Treue. Ein Mann hat gegenüber seinem Pfarrer einmal die sogenannte ‚Sonntagspflicht’ kritisiert, indem er sagte: „Ich halte es für eine unerträgliche Last, Sonntag für Sonntag in den Gottesdienst gehen zu müssen. Ich gehe nur, wenn ich Lust dazu habe.“ Darauf gab sein Pfarrer ihm zur Antwort: „Ja, ich auch. Manche Tage habe ich sogar zwei oder dreimal Lust auf die Begegnung mit Gott.“

Niemand kann eine lebendige Beziehung zu Christus haben, wenn er nicht dorthin geht, wo er auf uns wartet. Die Liebe hängt nicht davon ab, ob man zum Beten oder zum Gottesdienstbesuch große Lust hat. Das Gebet, und damit die Liebe zu Gott, lebt von der Treue, die auf einer unbedingten Entscheidung gründet. Ohne Entscheidung geht nichts weiter. Wenn uns die Beziehung zu Gott wichtig ist, muss ich mich entscheiden, ein betender Mensch zu werden und meine Beziehung zu Gott gestalten. Gestern Abend wurde ich gebeten, ein paar Fragen für eine Hochzeitszeitung für eine meiner Töchter zu beantworten. Eine der Fragen lautete: „Herr Böhm, womit kann der Mann ihrer Tochter ihr zu guter Laune verhelfen? „Indem er sich regelmäßig Zeit für sie nimmt, ihr ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und ihr gut zuhört, sie zu verstehen versucht und auf sie eingeht.“ Das ist das Beste, was man für seine Frau tun kann, und steht an erster Stelle. Auch Jesus will es uns wert sein, dass wir ihm regelmäßig unsere beste Zeit schenken, wertvolle Zeit, keine „Abfallzeit“.

Das Verlangen nach treuer Liebe ist unwiderruflich in unser Herz eingeschrieben. Die Liebe verlangt nach Ewigkeit, und darum braucht es auch das beständige Gebet. Selbstverständlich lässt sich Liebe nicht erzwingen. Aber man kann Liebe lernen, indem man sich auferlegt, sich bestimmte Zeiten zu nehmen, sie einzuüben und zu pflegen. Zum rechten Beten gehört, dass wir es regelmäßig tun. C. H. Spurgeon weist darauf hin: „Natürlich können wir zu allen Zeiten beten – ich weiß, wir können es, aber ich fürchte, dass diejenigen, die nicht zu bestimmten Zeiten beten, überhaupt nicht beten.“ Die Seele lebt so notwendig aus dem Gebet wie die Ehe vom Gespräch miteinander. „Alles Leben will Regel, Wiederholung, will Rhythmus“ (Romano Guardini).

So wie wir gut für unseren Körper sorgen sollen, hat es Folgen, wenn wir uns nicht gut um unsere Seele kümmern. Und die Seele lebt erwiesenermaßen von der Liebe. Die Liebe gibt es wirklich, doch sie gewinnt nur so viel Bedeutung für unser Leben wie wir ihr in uns Raum geben. Das kann (und darf) mit Anstrengung verbunden sein, vor allem am Anfang. Doch Gewohnheit hilft und macht es mit der Zeit zu einem immer größeren Bedürfnis. Vom Maßstab der Liebe her betrachtet ist ein ­Gebet umso wertvoller, je mehr Mühe, je mehr ­Anstrengung dahinter steckt. Die Liebe darf mich etwas kosten. Jose-Maria Escriva (Priester und ­Ordensgründer) schrieb in seinem Buch „Die Spur des Sämanns“: „Um das Glück zu finden, bedarf es nicht eines bequemen Lebens, sondern eines verliebten Herzens!“

Gott aus Leidenschaft lieben durchzieht die ganze Bibel. Der Apostel Paulus selbst hat dafür ein Wort gefunden, das das zusammenfasst: „Von Christus ergriffen“ werden. Man könnte auch übersetzen: „erobert“, „fasziniert“ werden. Die Verliebten beherrschen sich nicht in ihrer Glut. Ich habe keine Schwierigkeiten, mir einen Paulus vorzustellen, der im Überschwang der Freude nach seiner Bekehrung in die Welt hinausruft: „Ich bin von Christus Jesus ergriffen worden! Ich bin von Christus Jesus ergriffen worden!“ Oft ­benutzt man den Ausdruck „vom Blitz getroffen“, um über Liebe auf den ersten Blick zu sprechen, die jedes Hindernis überwindet; auf niemanden trifft diese Metapher besser zu als auf Paulus. Sein verliebtes Herz können wir schlagen hören, wenn er sagt: Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein… (Phil 3,7-8).

Wahre Liebe verändert

Die Wirkung des Verliebtseins ist zweifach. Einerseits bewirkt sie eine drastische Konzentration auf die geliebte Person, die den Rest der Welt zweitrangig werden lässt. Andererseits befähigt sie dazu, alles Mögliche für die geliebte Person zu erleiden. Wenn wir die Person des Apostels Paulus anschauen, dann sehen wir beides vollkommen in dem Moment verwirklicht, in dem der Apostel Christus entdeckt: Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat. Wir kennen die Sätze des Apostels, die jeder von uns gern für sein Leben sprechen würde: Für mich ist Christus das Leben (Phil 1,21) und: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20).

Als ich 19 Jahre alt war, habe ich mich gleich zweifach verliebt, auf menschlicher und auf göttlicher Ebene war meine innerste Sehnsucht geweckt worden. Die Liebe zu einem Menschen hat sich verwirklicht in meiner Frau. Mit meiner Liebe zu Gott wurde ich nach einer mehrjährigen Funk­stille durch mein Gegenüber erneut konfrontiert. Als ich meine heutige Frau kennenlernte, hatte der Glaube an Jesus Christus für sie eine zentrale ­Bedeutung. Die authentische Art, wie sie ihre Überzeugung vertrat, beeindruckte mich tief, konfrontierte mich gleichermaßen aber auch mit existenziellen Fragen, die ich beiseite geschoben hatte: „Wofür lebe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?“ Als ich meinem besten Freund von meinen neu aufbrechenden Fragen erzählte, reagierte er verstört: „Was machst du? Bist du jetzt durch­geknallt?“ Ich antwortete ihm: „Hör mal, die Antworten auf diese Fragen sind doch ganz wichtig.“ Mein Freund antwortete darauf geringschätzig: „Du bist ja verrückt!“ Ich fragte zurück: „Aber was ist der Sinn des Lebens denn für dich?“ Darauf sagte er nur: „Aber, Rudi, diese Frage darfst du dir nicht stellen; darauf gibt es keine Antwort! Und wenn du sie stellst und keine Antwort findest, dann wirst du verrückt. Lebe einfach jeden Tag; entscheide, gewisse Dinge zu wollen und tu sie einfach.“ Mein Freund konnte nicht damit ­leben, dass ich nicht mehr „grund-los“, d. h. ohne Gott leben wollte und brach die Beziehung zu mir ab.

Im gott-ebenbildlichen Menschen ist etwas an­gelegt (Ziele, Aufgaben, Intentionen), was sich in einem Prozess lebenslangen Werdens und Reifens entfalten und verwirklichen soll. Daher ist der Sinn christlicher Existenz auf Gottesebenbildlichkeit und Gotteskindschaft ausgerichtet. Wo diese Sicht ausgeschaltet wird, kann der Mensch seinen Lebenssinn nicht erkennen und erlebt sich dabei permanent überfordert. Ich frage mich, ob es da nicht einen Zusammenhang gibt zu der steigenden Zahl psychischer Erkrankungen und der wachsenden Suchtproblematik. „Die eigentliche Seelenkrankheit unserer Epoche ist der einge­tretene Sinnverlust unseres Daseins.“2 Raphael ­Bonelli ergänzt in dem bereits erwähnten Zeitungsartikel: „Wir wissen, dass Religiosität ein Faktor ist, der die Psyche stabilisiert. Das ist empirisch erwiesen. Der Religionsverlust geht einher mit einem Identitätsverlust, mit Orientierungs­losigkeit und einem Gefühl der Sinnlosigkeit.“ Die Folgen sind eine dürre, vertrocknete Seelenlandschaft.

Genau an der Stelle knüpft Gottes Verheißung (Jes 58, 11) an. Ich möchte es zum Schluss noch einmal wiederholen: Der Ort, an dem unsere tiefsten Sehnsüchte gestillt werden, die Quelle des Lebens, die Quelle lebendigen Wassers, ist Gott selbst.
Vielleicht mag jeder sich einmal selbst fragen: Bin ich auf der Suche nach jener „Quelle lebendigen Wassers“? Wenn ja, wie viel Zeit darf die Pflege der Liebe zu Gott mich kosten, zu diesem Gott, der so sehr und immerzu darauf aus ist, mich im dürren Land satt zu machen und meine Glieder zu stärken, damit ich einem gewässerten Garten gleiche, einer Wasserquelle, deren Wasser niemals versiegt?

Anmerkungen:
1 Interview in der „Tagespost“ vom 21. März 2018
2 Radiovortrag von Professor M. Balkenohl, Osnabrück
Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2018: Mich überlassen oder mich überlasten
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