Person im Gegenlicht vor einer Kirchentür

Wie Beichten die Welt verändert – Das Verschwiegene ins Wort erlösen

Johann Christoph Arnold –

Im Bekenntnis konkreter Sünden stirbt der alte Mensch unter Schmerzen einen schmachvollen Tod vor den Augen des Bruders. Weil diese Demütigung so schwer ist, meinen wir immer wieder, der Beichte vor dem Bruder ausweichen zu können … (Doch) in dem tiefen geistig-leiblichen Schmerz der Demütigung vor dem Bruder erfahren wir … unsere Rettung und Seligkeit! (Dietrich Bonhoeffer)

Die Wahrheit verändert Menschen

Schuld arbeitet im Geheimen, und sie verliert ihre Macht erst dann, wenn sie nach außen dringen darf. Unser Verlangen, nach außen stark und tugendhaft zu wirken, hindert uns oftmals daran, anderen gegenüber zu bekennen, was wir falsch gemacht haben. Stattdessen versuchen wir, unsere Fehler aus unserem Gedächtnis zu streichen, und wenn das nicht gelingt, dann versuchen wir, unsere Schuld zu verstecken. Aber wenn wir uns nicht dem stellen, was wir falsch gemacht haben, und die Verantwortung dafür übernehmen, kann der Druck unerträglich werden.

Wenn wir auf unsere Fehler fixiert sind, dann werden wir an ihnen verzweifeln. Deshalb müssen wir die Dinge ruhen lassen, nachdem wir sie bereut haben. Steve, ein alter Freund, schrieb mir:

„Auf meiner Suche nach Frieden und Ganzheit habe ich mich mehreren Religionen zugewandt und Psychologie studiert, aber ich habe nur Teil­antworten auf meine Fragen gefunden. Erst als ich erkannte, wie falsch ich mein eigenes Leben gelebt hatte, wurde mir klar, wie dringend ich mich selbst ändern musste. Die entscheidende Erfahrung machte ich ganz unerwartet, als mir zum ersten Mal das viele Unrecht, das ich begangen hatte, bewusst wurde. Dieser Erkenntnis stand vorher mein Stolz im Weg und mein Bedürfnis, vor anderen gut dazustehen. Aber plötzlich strömten Erinnerungen und Bilder aus mir hervor wie ein Fluss von Galle. Ich wollte nur frei sein, ich wollte nichts Dunkles und Hässliches mehr in mir haben. Ich wollte das, was ich angerichtet hatte, soweit es ging, wiedergutmachen. Ich konnte keine Entschuldigungen vorbringen, die mich hätten entlasten können – jugendlicher Leichtsinn etwa, die Umstände oder der schlechte Einfluss von Freunden. Ich allein war verantwortlich für das, was ich getan hatte. Seite über Seite schrieb ich alles detailliert auf. Ich hatte das Gefühl, dass der Racheengel mein Herz mit seinem Schwert schlug, so stark war der Schmerz. Ich schrieb Dutzende von Briefen an Menschen und Organisationen, die ich betrogen hatte, von denen ich etwas gestohlen hatte oder die ich angelogen hatte. Schließlich fühlte ich mich vollkommen frei.“

Die Wahrheit verändert ganze Regionen

Wirkliche Vergebung wird von Mensch zu Mensch weitergegeben und besitzt die Kraft, eine ganze Gemeinschaft, Stadt oder Region zu verändern. Die Menschen in Möttlingen, einem Dorf im Schwarzwald, erlebten solch eine Bewegung im Jahre 1844, und es stellte ihr Leben auf den Kopf. Möttlingen ist heute ein ganz gewöhnlicher Ort, und damals war das nicht anders. Der inzwischen berühmte Pfarrer Johann Christoph Blumhardt beklagte sich oft über die Apathie, die wie eine Nebeldecke über seiner Gemeinde lag.

Die „Erweckung“, wie sie heute oft bezeichnet wird, begann an Neujahr 1843, als ein junger Mann, der für sein wildes Zechen und seinen Jähzorn bekannt war, an die Tür des Pfarrhauses klopfte. Nachdem er seinen Wunsch geäußert hatte, den Pfarrer zu sehen, wurde er hereingelassen. Er sagte Blumhardt, dass er eine Woche nicht mehr geschlafen habe und Angst habe zu sterben, wenn er sein Gewissen nicht erleichtere. Blumhardt blieb auf der Hut, und erst als der Mann begann, eine Fülle von Missetaten zu gestehen, verlor er sämtliche Zweifel an seiner Aufrichtigkeit.

Eine bemerkenswerte Welle der Reue setzte ein. Bis zum 27. Januar 1844 waren 16 Menschen zum Pfarrhaus gekommen, um ihr Gewissen zu erleichtern. Drei Tage später war die Zahl der Menschen auf 35 angestiegen. Zehn Tage später lag sie bei mehr als 150. Männer und Frauen aus den umliegenden Dörfern strömten nach Möttlingen. Es gab keine übertriebenen Verkündigungen, die reißerisch von Verfehlungen in der Vergangenheit berichteten, oder öffentliche Bekenntnisse der Reue. Die „Erweckung“ war nüchtern und aufrichtig, tief verwurzelt in der Realität. Die Menschen fühlten sich innerlich angetrieben, mit ihrer Vergangenheit zu brechen: Entsetzt hatten sie das Gefühl, ihr altes Leben hinter sich lassen zu müssen. Diese Bewegung ging weit über Worte und Gefühle hinaus und Reue und Vergebung fanden konkret Ausdruck. Diebesgut wurde zurückgegeben, Feinde versöhnten sich, Untreue und Verbrechen (ein Fall von Kindsmord eingeschlossen) wurden gestanden und zerstrittene Eheleute versöhnten sich. Selbst die stadtbekannten Schnapsnasen ließen die Kneipen links liegen!

Fast vierzig Jahre später, im Jahre 1883, schrieb der Biograph von Blumhardt, dass dieses Ereignis noch nicht in Vergessenheit geraten sei – selbst die Kinder jener Leute, die damals dabei gewesen waren, strahlten noch Freude aus. In den letzten dreißig Jahren bin ich mehrmals nach Deutschland gereist, um Blumhardts Enkelinnen zu besuchen. (Meine Eltern, die beide stark von seinen Schriften beeinflusst wurden, nannten mich nach ihm.) Ich kann bezeugen, dass etwas von diesem Geist noch heute lebendig ist. War die Erweckung in Möttlingen ein Einzelfall? Könnte sich das gleiche noch einmal ereignen? Blumhardt glaubte fest daran: Immerhin war der Stein von nur einem reumütigen Mann ins Rollen gebracht worden.

Die Wahrheit verändert den Alltag unserer Gemeinschaft

In vielen Fällen kann Unrecht durch eine einfache Entschuldigung aus der Welt geschafft werden – zum Beispiel, wenn wir kurz angebunden gegenüber jemandem gewesen sind oder es sonst an Mitgefühl haben fehlen lassen. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass der Täter auch mit den Konsequenzen seiner Tat konfrontiert werden muss, wenn er ganz frei werden will. Es gibt Fälle, wo es mehr als eines privaten Bekenntnisses bedarf.

Stanley Hauerwas schreibt: „Eine Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, die Sünden der Mitglieder zu ,übersehen‘, nur weil sie gelernt hat, dass Sünden eine Bedrohung für eine Gemeinschaft sind, die in Frieden leben möchte.“ Mitglieder einer Gemeinschaft, die zusammenhält, werden nicht mehr ihren Groll für sich behalten. „Wenn wir glauben, dass unser Bruder oder unsere Schwester sich an uns versündigt hat, so richtet sich dieser Affront nicht nur gegen uns, sondern gegen die ganze Gemeinschaft.“1

Mark und Debbie lebten mit mehreren Leuten in einer kleinen Gemeinschaft in der Stadt. Unter ihnen befand sich auch ein alleinstehender Mann, der sich in eine verheiratete Frau verliebte: „Einige von uns versuchten, Licht in diese Situation zu bringen, indem wir einzeln mit ihnen darüber sprachen. Aber wir haben es nicht geschafft, reinen Tisch zu machen. Wir wollten einfach glauben, dass es zwischen den beiden keine ernste Angelegenheit sei, zumindest nicht so ernst, dass es innerhalb der Gemeinschaft zum Thema gemacht werden sollte.

Machen wir nicht alle Fehler?

Was gab uns das Recht, über die beiden zu Gericht zu sitzen? Wir redeten uns ein, dass Konfrontation nur dazu beitragen würde, dass sich die beiden noch mehr schämten und sich noch mehr hassten für das, was sie taten, und dass es auch den Kreislauf des Versagens verlängern würde. Also vermieden wir das Thema wie die Pest. Jetzt sehen wir, dass es dieses sogenannte Mitgefühl war, das den Kreislauf des Versagens aufrechterhielt. Der Mann verließ die Gemeinschaft schließlich sowieso. Zwei Jahre später verließ auch die Frau die Gemeinschaft – und ließ sich von ihrem Mann scheiden.“

Konfrontation ist manchmal von entscheidender Wichtigkeit, wenn es Vergebung geben soll. Wenn wir uns weigern, Menschen darauf hinzuweisen, dass sie andere verletzen –, weil wir z. B. davon überzeugt sind, dass es uns nichts angeht –, dann kann das manchmal so sein, als ob wir die Menschen für das, was sie tun, entschuldigen. Aber Entschuldigen von Unrecht und Vergebung sind diametrale Gegensätze.

Die Wahrheit schenkt Freiheit

Bekenntnis ebnet den Weg für Vergebung und Versöhnung. Ohne Versöhnung geraten wir in eine Sackgasse, und unser Stolz verhindert Vergebung. Sarah, ein Mitglied der Bruderhofgemeinschaft, schreibt von der Freude und der Freiheit, die sie erlebte, als sie sich entschloss, reinen Tisch zu machen und neu zu beginnen:

„Ich konnte nachts kaum schlafen. Etwas hämmerte in meinem Kopf: Ich musste die Dinge richtigstellen! Ich besuchte einige Freunde, denen ich vertraute, und erzählte ihnen alles. Das half mir sehr, obwohl das, was ich beichtete, wirklich abscheulich war. In den darauffolgenden Tagen fielen mir noch mehr Dinge ein, und wenn man wirklich reinen Tisch macht, dann ist selbst die kleinste Sache nicht mehr unbedeutend. Ich wusste gar nicht, dass es so viel Freude macht, zu bekennen und zu bereuen. Mir wurde leichter und leichter ums Herz.“

Sarah erfuhr eine wunderbare Befreiung. Sie hatte eigentlich erwartet, dass andere in der Gemeinschaft sie jetzt ablehnen. Aber zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie ihre Aufrichtigkeit begrüßten und sie mit all ihren Fehlern akzeptierten. Als Sarah Verantwortung für die Dinge übernommen hatte, die sie in der Vergangenheit falsch gemacht hatte, und als sie sich vornahm, neu zu beginnen, da stellte sie fest – und jeder von uns kann dies für sich herausfinden –, dass Bekenntnis Versöhnung ermöglicht.

Johann Christoph Arnold (1940-2017) ist der Enkel von Eberhard Arnold, Gründer der Bruderhof-Gemeinschaft. Er hat sie von 1983 bis 2001 geleitet und ist Autor vielgelesener Bücher.
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Anmerkung:
1  Stanley M. Hauerwas, Christian Existence Today: Essays on Church, World, and Living in Between (Durham, NC: Labyrinth Press, 1988), 91.

Aus: Wer gibt, heilt auch sich selbst. Plough, Farmington 1997, Kap. 11 gekürzt.

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