Wer, wenn nicht ich? – Selbstannahme und Sinnfindung gehören zusammen wie Boot und Wasser

Cornelia Geister –

Bedrängende Situationen und viel Angst – das ist die Wirklichkeit vieler. Bedrängnis auch durch Tagträume, Flucht vor dem eigenen Alltag. Sehnsüchte können sich in Süchte verwandeln. Wie soll ich bereit sein, ich selbst zu sein und ein Ja finden zu meiner Wirklichkeit?

Ein großes Ziel

Ich war unzufrieden mit dem Schöpfer, der mich so und nicht anders gemacht hatte. Romano Guardini zeigte mir, wie ich umdenken kann: ,,Am Anfang meiner Existenz steht nicht ein Entschluss von mir selbst, zu sein … Am Anfang meiner Existenz steht eine Initiative, ein Jemand, der mich mir gegeben hat … diesem Volk zugehörig, dieser Zeit, von diesem Typus und diesen Anlagen. Damit ist aber zugleich eine Aufgabe gestellt, eine sehr große: Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich. Ich soll mich in mein Selbst stellen, wie es ist, und die Aufgabe übernehmen, die mir dadurch in der Welt zugewiesen ist. Drücken wir es negativ aus: Ich darf diesem Zugewiesenen nicht ausweichen, etwa in die Phantasie, und mich in einen Anderen hineinträumen: ich bin der und der … tue das und das … vermag dieses und jenes … spiele solche und solche Rolle.
Bis zu einem gewissen Punkt ist das alles unschuldig; man erholt sich darin vom Selber-Sein. Von da ab wird es aber zur Gefahr, sich selber wegzulaufen. Auch vor dem Bösen in mir darf ich nicht weglaufen. Schlimmen Anlagen, verdichteten Gewohnheiten, aufgehäufter Schuld. Ich muss sie annehmen und zu ihnen stehen: so bin ich … das habe ich getan. Nicht im Trotz; der ist nicht Annahme, sondern Verhärtung. Aber in Wahrheit, weil nur sie über das Böse hinausführt: ich bin so; aber ich will anders werden.“1 D. h. also: Ich selbst bin mir als Aufgabe gegeben. Und dann spricht Guardini vom Verzicht: „Ich muss auf den Wunsch verzichten, anders zu sein, als ich bin; gar ein anderer als der, der ich bin. An der Wurzel von allem liegt der Akt, durch den ich mich selbst annehme. Ich soll damit einverstanden sein, der zu sein, der ich bin. Einverstanden, die Eigenschaften zu haben, die ich habe. Einverstanden, in den Grenzen zu stehen, die mir gezogen sind.“2

Nimm dir Zeit für dich selbst, denk nach!

Bin ich einverstanden mit meinen Eigenschaften und Gaben? Bin ich auf dem Weg, der oder die sein zu wollen, der/die ich bin? Will ich meine Grenzen annehmen?
Meine Grenzen annehmen hängt mit meiner Bereitschaft zusammen, die Wirklichkeit anzunehmen, sie sogar lieber zu gewinnen als die schönsten Tagträume. Ich nehme Abschied vom Hochmut, so sein zu wollen wie Gott: vollkommen. Hochmut ist ja ein altertümliches Wort. Es lässt sich verständlicher beschreiben mit Selbstüberschätzung, Maßlosigkeit, Überheblichkeit. Der Rückschluss von Minderwertigkeitsgefühl und Hochmut wird ganz deutlich gezogen. Wer sich zutiefst minderwertig fühlt, will auf jeden Fall hoch hinaus. In der Nachfolge Jesu gilt aber ein anderes:
„Das aber ist das Geheimnis Christi: das Höchste erreicht man nicht auf der Höhe, sondern in der Tiefe, nicht, indem man sich über, sondern unter die anderen stellt, nicht im Herrschen, sondern im Dienen. Jesu ganzes Leben – von seiner geringen Geburt bis zu seinem grässlichen Tod – ist die Sichtbarmachung dieser absteigenden Linie. Immer sehen wir ihn sich nach unten neigen, sich an das Niedrige halten, die Geringen aufsuchen, bei den Armen wohnen, den Verachteten helfen, auf die Seite der Unterdrückten treten. Er hält uns als Beispiel die Kinder vor: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich kommen.3
Was heißt das, werden wie ein Kind?

Denk noch einmal nach

Kannst du dich noch an die Zeit als Kind erinnern, in der du glücklich warst, einverstanden mit dir selbst? Wann war das und wann ging das zu Ende? Vielleicht fällt dir sogar ein, womit das zusammenhing?
„Werden wie ein Kind.“ Das ist die Aufgabe. Wer also bin ich? Diese Frage haben sich Menschen in allen Jahrhunderten und Zeiten gestellt. Auch ein Mann wie Dietrich Bonhoeffer stellte sich in Frage. Er war als mutiger Mann des Widerstands gegen die Naziherrschaft verhaftet worden und wartete in der Gefängniszelle auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Dort entstanden folgende Zeilen:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem,
als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen,
nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten,
nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür
und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich?
Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst
ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist
dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott. 4

 

Orientierung an Jesus

Jesus wusste um sein nahes Ende. Was tat er? Was können wir dabei von ihm lernen? Die Lehre, die Jesus den Seinen gab, war – zu Beginn des letzten Abendmahls – dass er seine Kleider auszog, eine Schürze umband und seinen Jüngern die Füße wusch. Das ist die neue Haltung: Um einem Menschen die Füße zu waschen, müssen wir uns unter ihn stellen. Wir ziehen es eher vor, ihm den Kopf zu waschen. Dabei stehen wir über ihm. Und als er sich mit den Jüngern zu Tisch gesetzt hatte, ­offenbarte Jesus in einer einfachen und unvergess­lichen Gebärde den Sinn seines Lebens und Sterbens: Er nahm das Brot und brach es, er nahm den Wein und schenkte ihn aus. Danach hat Jesus seinen Jüngern gesagt: „Was ich euch getan habe, das sollt ihr einander auch tun.“ Hingabe macht mein Leben fruchtbar.
Das Missverständnis, unter dem viele leiden, heißt: Ich muss immer im Dienst sein! Gott ­fordert nur. Kaum habe ich das eine getan, will er schon das nächste. Dahinter steht ein dunkles Gottesbild, das nichts mit dem Liebenden zu tun hat, der mich gewollt und geschaffen hat.
Bonhoeffer sagt: „Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“ Ich bin nicht zum Dienst berufen, sondern zu ihm hin. In eine Beziehung, in der ich immer mehr Mut finde, ich selbst zu sein. Die Ermutigung heißt: Bleibe in Jesus, er bleibt in dir. Dein Leben wird Frucht bringen, und deine Freude wird vollkommen sein.

Oben oder unten

Frucht bringen, d. h. ich werde zu einem „Ernährer“ für andere. Was habe ich davon? Theophil Spoerri war Universitätsprofessor. Er hatte auf der Karriereleiter viel erreicht. Und dann ist ihm Gott begegnet. Für ihn hat sich dabei „oben“ und „unten“ verändert: „Um die höchsten Dinge zu erreichen – Glauben, Vollmacht, Freiheit – muss man nicht hinauf, sondern hinabgehen. Das ist der Schlüssel zum größten Abenteuer, das uns offensteht. Kehren wir um. Verzichten wir auf die Höhe, auf unsere Über­legenheit, seien wir bereit für die Tiefe und das Unterliegen. So werden wir den Weg in die Freiheit finden. Einen anderen gibt es nicht. Dabei handelt es sich nicht darum, sich zu demütigen, um eine gute Note in der Klasse der Büßer und Kopfhänger zu bekommen. Es handelt sich ganz einfach darum, Gott zu suchen, WO ER IST! Wir werden ihn vergeblich auf der Höhe suchen. Man findet ihn nur auf seinem eigenen Wege, und weil es ihm gefallen hat, nach unten zu gehen, werden wir ihn auch nur auf dem Weg nach unten treffen.“5

Auf diesem Weg erleben wir die Freiheit, Ja zu uns sagen und dieses Ja zu leben. Dann hat der Glaube bei uns ein Zuhause gefunden. Ja, wir kommen am Ende der Zeiten heim zu Gott, aber Gott will jetzt schon bei uns zu Hause sein. Das wird spannend, denn dann heißt Glaube, offen sein für das, was von Gott her kommt. Das Ja in der Beziehung zu Gott kann mich auch in sehr schweren Zeiten meines Lebens durchtragen. In Zeiten großer persönlicher Verunsicherung, in denen ich an mir zweifle oder gar verzweifle. In Zeiten großer ­äußerer Veränderungen, in Verfolgung, wie es bei Bonhoeffer war, als sein Leben gewaltsam zu Ende ging. Sein Ja zu dem Weg, den Gott mit ihm ging, ließ ihn seinen Weg zu Ende gehen – an der Hand dessen, dem er sich mit seinem ganzen ­Leben anvertraut hatte.

Keiner kommt unangefochten durch Gefahren. ­Jeder weiß, wie wunderbar es ist, wenn Gott nah, und wie schwer, wenn er fern ist. Aus dem Leben der ägyptischen Wüstenmönche (man nannte sie „Wüstenväter“) wird erzählt, wie einer nach langer Prüfung, in der er nichts von der Nähe Gottes spürte, fragte: „Herr, wo warst du doch in der schrecklichen Zeit?‘ Gott aber antwortet: ‚Dir ­näher als je!‘
Durch die Nähe werden wir gestärkt. Durch die Ferne geprüft. Ist er aber fern, dann wird es Zeit für den nackten Glauben, der nichts hat als das Wort: ,Ich lasse dich nicht!‘“6 Es ist wichtig, dass ich herausfinde, wo mein Platz ist: an der Seite ­Jesu.

Ich fragte eine junge Frau, die in ihrem Beruf erfolgreich ist und die von ihren Mitarbeitern überaus geschätzt wird, warum sie so ungern über sich und ihre Zukunft nachdenke. Die Frage: „Was willst du tun mit dem Rest deines Lebens?“ war für sie ein Alptraum. Warum? – „Weil mir sowieso nichts einfällt, wenn ich mal nachdenke“, war ihre Antwort. Bei der Frage nach dem Rest meines Lebens geht es nicht darum, dass ich heute schon weiß, wo ich in zehn oder zwanzig Jahren leben und arbeiten werde. Es ist die Frage nach meiner persönlichen Lebensgrundlage und meinen Beziehungen. Bin ich bereit, meinen Platz anzunehmen und einzunehmen?

Etwas Schönes für Gott

Mutter Teresa von Kalkutta hatte ihren Platz bei den Armen gefunden. Äußerlich gesehen rieb sie sich Tag für Tag für die Verachteten auf, für die, die „ganz unten“ sind und keinen haben, der sie sieht. Gefragt, was sie tue, sagte sie: „Etwas Schönes für Gott!“ Natürlich war es harte Arbeit, aber sie tat sie aus Freundschaft und Liebe zu dem, dem sie ihr Leben gegeben hatte. Sie und ihre Schwestern fragten nicht danach, wer „würdig“ wäre, ihre Hilfe zu bekommen, sondern das tägliche Gebet der „Schwestern der Barmherzigkeit“ heißt bis heute:
„Mach uns würdig, Herr, unseren Mitmenschen in der ganzen Welt zu dienen, die in Armut und Hunger leben und sterben. Gib ihnen durch unsere Hände heute ihr tägliches Brot, durch unsere verstehende Liebe Frieden und Freude.“

In einer Biographie über das Leben von Charles de Foucauld lese ich: „Die neue Art, das Christentum zu vertreten, liegt in einer ungewöhnlichen Demut. Nur steht Demut heute nicht hoch im Kurs… Zwischen Demut und Minderwertigkeit besteht ein verborgener Zusammenhang: das eine schließt das andere aus. Es gilt die Wahrheit: Demut gehört zur christlichen Existenz. Der Herr lebte sie in der Fußwaschung den Jüngern vor. Foucauld hatte dies erkannt, und war darum frei von aller persönlichen Wichtigtuerei. Die blinde Formel für seine Demut entnahm er einer Predigt von Abbé Huvelin, der einmal über Christus ausführte: ‚Du hast so ganz den letzten Platz eingenommen, dass dir niemals jemand ihn hat streitig machen können.‘ Diese Äußerung entflammte Foucauld: Der letzte Platz. Das war eine Losung, mit der er sich in den stärksten Gegensatz zur modernen Zeit setzte, die nur nach dem ersten Platz lechzt.“7
Das also ist meine Aufgabe, dass ich meinen eigenen Platz im Leben finde und einnehme.
Ohne Furcht zu versagen oder zu kurz zu kommen. Der Liebe glaubend, die mich bei meinem Namen ruft und sagt: „Du bist mein!“

Cornelia Geister lebt seit 1974 in der OJC, ist Gründungsmitglied der Kommunität und gehört zum Redaktionsteam.

Aus: Schenk dir ein Lächeln. Über die Kunst, sich selbst besser zu verstehen. Brunnen Verlag, Gießen 1998, S. 131-138, leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Anmerkungen:
1 Romano Guardini, Die Annahme seiner Selbst, Würzburg 1969
2 R. Guardini, a.a.O.
3 Theophil Spoerri, Vom befreienden Glauben, Berlin 1934
4 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh, 16. Aufl. 1997
5 Th. Spoerri, a.a.O.
6 R. Guardini, a.a.O.
7 Walter Nigg, Buch der Büßer, Olten 1970
Bild: ©Martha Hummel
Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2018: Dem JA entgegenleben!
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