Zwei Personen sitzen vor einem Sonnenuntergang auf Campingstühlen und unterhalten sich

Warten auf den Kommenden – Ein jüdisch-christliches Gespräch

Ralph Pechmann –

Mitte der 90er Jahre sprach Pinchas Lapide in Heppenheim über Paulus aus jüdischer Sicht. Mir stellte sich dabei die Frage nach der Rolle der messianischen Juden. Als ich sie äußerte, reagierte er sichtlich empört: „Kommen Sie mir nicht mit messianischen Juden, ich bin auch einer!“ Trotz seiner verbalen Abwehr wurde mein Interesse noch größer und ich blieb nach dem Vortrag, um mit ihm über dieses sensible Thema zu reden. Wir saßen recht lange zusammen. Ein seltener und kostbarer Moment.

Ich erzählte von einem Briefwechsel während des Ersten Weltkriegs zwischen Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig. Die jüdischen Freunde, deren einer Christ wurde und der andere Jude blieb, tauschten sich zum Für und Wider einer Konversion aus. Ein Briefwechsel zwischen Verdun und Frankfurt. Der eine kämpfte an der Front, der andere wurde wegen seiner körperlichen Verfassung nicht eingezogen. Ihre Briefe bezeugen ein Ringen um die messianische Frage inmitten der Katastrophe. Welche Größe im Angesicht der kleinlichen Feindschaften.

Der alte Herr reagierte sichtlich erfreut auf meine Ausführungen. Rosenzweig suchte in seiner Entscheidungsfindung die Synagoge auf, um sich innerlich zu verabschieden. Er blieb aber Jude, überzeugter als zuvor. Seine Auseinandersetzung hatte ihm Augen und Herz für die Schechina des Ewigen erneut geöffnet. Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ gilt als Frucht dieses Ringens.

Unser Gespräch wurde – trotz unterschiedlicher Sichtweisen – immer intensiver. Wir kreisten um die Messiasfrage aus jüdischer und christlicher Sicht. Schließlich entgegnete er mir: „Sie können mir nicht beweisen, dass Jesus der Messias ist. Ich kann es Ihnen nicht widerlegen. Aber beide warten wir auf den Kommenden, der für Sie der Wiederkommende sein wird. Wenn er kommt und ich erkenne in ihm den Messias Jesus, werde ich vor ihm die Knie beugen.“

Seine Antwort wurde mir eine ungeahnte Horizonterweiterung und gleichzeitige Glaubensstärkung. Sie zeigte mir, was uns im jüdisch-christlichen Gespräch verbindet und was uns trennt. Kritisch-konstruktive Einsichten lassen aufhorchen, aber sind auch selten. Es war nicht allein seine, noch meine Wahrheit, die sich hier kundtat. Sie ereignete sich zwischen uns; die Wahrheit beginnt zu zweit.

Auch nach dem Tod von Pinchas Lapide leben seine Worte weiter. Sie zeugen vom Gemeinsamen und Trennenden unserer Begegnung. Und ihre Hoffnung trägt und überbrückt beides.

Ralph Pechmann ist seit 43 Jahren Mitglied der OJC-Gemeinschaft, jetzt im Ruhestand.

Bild:©Harli Marten / unsplash
Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2022: Wahrheit wagen
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