Von den Schwachen lernen – Verletzlichkeit als Gabe zur Gemeinschaft

Erzbischof Pierre d’Ornellas –

Diese Predigt – gehalten beim Gottesdienst zur Beerdigung von Jean Vanier am 16. Mai 2019 in Trosly-Breuil – stellt uns ihn als jemanden vor, der seinen Auftrag von Gott her darin sah, uns die Ärmsten und Behinderten als Vorbilder zum Lieben und sich Lieben lassen ans Herz zu legen. Bis heute sind in vielen Teilen der Welt Gemeinschaften der „Arche“ entstanden, in denen diese Berufung, das Leben mit Behinderten zu teilen, gelebt werden kann und in denen keiner Herr und Meister ist, sondern alle Diener und Lernende sind. (red)

 

Nachdem Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte, zog er sein Obergewand wieder an und kehrte an seinen Platz am Tisch zurück. „Versteht ihr, was ich eben getan habe, als ich euch die Füße wusch?“, fragte er sie. „Ihr nennt mich Meister und Herr, und das mit Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und der Meister, euch die Füße gewaschen habe, sollt auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt ­habe. Ihr wisst das jetzt alles; glücklich seid ihr zu nennen, wenn ihr auch danach handelt.“ (Joh 13,12-17)

Jean, unser Bruder und Freund, hat uns verlassen. Wir sind traurig. Aber er hinterlässt uns eine große Familie, zu der wir gerne gehören, voller Dankbarkeit für alles, was wir erhalten haben, und voller Zuversicht für die Zukunft.

Das Wort für uns alle

Jean, unser Bruder und Freund, hat uns eine Botschaft hinterlassen, oder besser gesagt: das Wort, das Wort Gottes. Wir haben es in den Bibelstellen gehört, die gerade gelesen wurden. Jean hat sie für sich und für uns persönlich ausgewählt, um sie heute hier lesen zu lassen. Zusammen bilden sie das Wort, das er in sein Herz nahm. Er hat über dieses Wort meditiert in den vergangenen 55 Jahren in der Arche und in den 48 Jahren, die er mit seinen Freunden von „Glaube und Licht“ geteilt hat. Dieses Wort inspirierte Jeans Vision für die Arche und seinen Wunsch, dass die Arche in 40 Ländern und darüber hinaus ein demütiges und lebendiges Licht sei.
Dieses Wort führte Jean in seinen Begegnungen mit Menschen auf der ganzen Welt, mit Menschen, die ausgegrenzt, abgelehnt oder im Gefängnis sind. Durch ihr Leiden und ihren Schrei nach Beziehung berührten sie Jean und brachen ihm das Herz. Dank dieser Menschen verstand Jean besser die unermessliche Tiefe des Wortes, die in seinem Herzen widerhallte. Dank ihnen blühte dieses Wort in ihm auf.

Dieses Wort ließ Jean angesichts von Spaltungen leiden. Es drängte ihn, für die Einheit der Christen und für den Frieden zwischen den Religionen zu arbeiten. Dank dieses Wortes verstand er, dass Demut und Armut der sicherste Weg sind hin zu Einheit, Frieden und Brüderlichkeit. Jean hatte ­eine tiefe Leidenschaft für den Frieden, er dürstete danach. Sein großer Wunsch war es, dass die Menschen als Brüder und Schwestern über die Unterschiede ihrer religiösen Konfessionen oder ihres sozialen und kulturellen Hintergrunds hinweg zusammenleben können!

Dieses Wort verlangte von Jean, sich von jeg­lichem Stolz, von jeglicher Machtanmaßung und von jeglicher Schuld zu befreien, um dem unerreichbaren Ideal eines wahren Jüngers Jesu allmählich näher zu kommen: „sanftmütig und ­demütig von Herzen zu sein“. Dieses Wort veranlasste ihn zu einem Zustand der „ständigen Bekehrung“, wie er im Alter von 88 Jahren sagte: „Nach und nach habe ich gelernt, meinen Halt aufzugeben, mich selbst zu demütigen, mich mit meinen Schwächen zu akzeptieren, obwohl ich immer noch einiges vor mir habe, bis ich mich von meinen Widerständen und meinem Stolz befreien kann, um freier zu werden, andere besser zu lieben und mich selbst lieben zu lassen.“ Angetrieben von diesem Wort kniete er bei der letzten Generalversammlung der Arche, an der er 2008 in Kalkutta teilnahm, nieder und bat um Vergebung für seine Fehler und Versäumnisse. Uns wird heute dieses Wort mit Respekt und Sanftmut angeboten. Dass wir es – sei es hier in Trosly oder in unseren Gemeinschaften – gemeinsam hören, trotz der Tatsache, dass jeder von uns auf seinen persönlichen Wegen so unterschiedlich ist und trotz der großen Vielfalt unserer spirituellen Überzeugungen.

Für Christen ist es das Wort und das Licht Gottes. Für die Familie der Arche und für „Glaube und Licht“ ist es das Wort, das jeden einzelnen auf seiner persönlichen Reise zu dem Geheimnis derer begleitet, die verwundbar, schwach, leidend und zerbrechlich sind. Für uns alle ist dieses Wort das Licht, das sich in den Gesichtern so vieler zerbrechlicher Menschen widerspiegelt, die uns ihre Verletzlichkeit und ihre Bitte um unsere Freundschaft zeigen. Menschen mit geistigen Behinderungen sind auf ihre Weise ein Echo dieses Wortes, das unsere Herzen umwandelt, indem es sie von den Barrieren befreit, die wir aus Angst vor Unterschieden errichten.

Lassen wir uns heute hier, da wir mit unseren vielfältigen Unterschieden zusammenkommen, vom Wort bewegen. Möge dieses Wort uns als Brüder und Schwestern vereinen. Möge dieses Wort unsere Herzen beruhigen und erleuchten.

Sich gegenseitig die Füße waschen

Dieses Wort ist in erster Linie eine Geste, eine Geste von Jesus. Er legte sein Obergewand ab, das vielleicht ein Zeichen für seinen sozialen Hintergrund ist. Er entfernte es. Er nahm wie ein Diener ein Handtuch und kniete nieder, um den Jüngern die Füße zu waschen. Jesus macht sich vor uns verletzlich. Er tut dies, um unser Herz zu berühren und zu heilen. Er verwendet keine anderen Mittel, als sich uns in seiner Verletzlichkeit zu präsentieren, wie der niedrigste unter den Dienern. Mit seiner Verletzlichkeit kommt er, um ­unsere Herzen zu reinigen, die durch Stolz verhärtet und durch Macht verbarrikadiert wurden, in der Sicherheit, in der Gewissheit, Recht zu haben. Er ist der „Lehrer und Herr“, aber er ist es, indem er sich aus Liebe demütigt. Er ist „Lehrer“ durch seine Zärtlichkeit, sein Vertrauen und seine Vergebung. Er ist „Lehrer und Herr“ durch die Beziehung, zu der er uns einlädt, eine Beziehung der ewigen Freundschaft, die uns dazu erhebt, er­hobenen Hauptes in Freiheit und Freude da zu ­stehen.

Doch das Wort geht noch weiter. Es fordert uns auf, seinem Beispiel zu folgen: Wir müssen uns gegenseitig die Füße waschen. Er möchte, dass wir auch „Lehrer“ sind, indem wir demütige und liebevolle Diener sind. Denn der Größte unter uns ist der Demütigste, der Niedrigste, derjenige, der am meisten dient. Sich gegenseitig die Füße zu waschen bedeutet anzuerkennen, dass wir alle verletzlich und bedürftig sind und dass wir alle kostbar in den Augen Gottes sind. Es geht darum, aus der Schule der Demut und Liebe zu lernen, es geht darum, anderen zuzuhören und sie mit Respekt und Einfühlungsvermögen anzuschauen. Es geht darum zu lernen, dass „Verletzlichkeit der Ort der Beziehung und der gegenseitigen Unterstützung ist“, wie Jean uns in seinem letzten Buch erinnert.

Der Auftrag der Verletzlichen

Aber wer ist am besten fähig, die Füße waschen? Diejenigen, die Jesus in ihrer Verletzlichkeit und Einfachheit am ähnlichsten sind. Ja, es sind verletzliche, zerbrechliche Menschen, die – nicht immer ohne Schmerzen – ihrer Verletzlichkeit zustimmen! Menschen mit geistigen Behinderungen können uns die Füße waschen, indem sie uns eine Beziehung und ihre Freundschaft anbieten, die uns in den Tiefen unseres Herzens verwandelt. Ihre Verletzlichkeit klopft an die Tür unseres Herzens, so dass wir alle nach und nach darin einstimmen können, nur eine einzige Stärke zu ­haben, nämlich zu lieben und uns lieben zu lassen. Ihr Durst nach Begegnung lädt uns ein, nach und nach alle Hindernisse in uns zu beseitigen, die echte Begegnung, Treue und Freundschaft verhindern.

Dies sind diejenigen, die Gott ausgewählt hat, um die Welt zu „waschen“ von ihrem verrückten Verlangen nach Macht und Herrschaft, die ausschließt und abweist! Dies ist – im Gegensatz dazu – Gottes Torheit: die Verletzlichsten auszuwählen, um die Gedanken derer zu „waschen“, die nach Erfolg und Überlegenheit gegenüber anderen hungern, und zwar so, dass jeder Mensch begrüßt wird gerade so, wie er/sie ist! Wir haben es heute im Wort Gottes gehört: Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen
(1 Kor 1,27).

Dies ist das Geheimnis der Arche, die „Werk ­Gottes“ ist! Die Arche, das ist Glück, wenn wir uns weiterhin gegenseitig die Füße waschen.

Gepriesen sei Gott für die Arche

Ihr, die ihr hier vor mir seid, und ihr in den Gemeinschaften auf der ganzen Welt, ihr zeigt uns den Weg zur Brüderlichkeit in Frieden: Es geschieht durch die akzeptierte Verletzlichkeit und durch die Geduld, die erforderlich ist, um Beziehungen aufzubauen, dass unsere Herzen nach und nach befreit werden von ihren arroganten Ansprüchen, die Gemeinschaft verhindern. Es geschieht durch die Verletzlichkeit, dass unsere Herzen nach und nach ihre Fähigkeit zu Mitgefühl und ihren Durst, zu lieben und geliebt zu werden, entdecken, wenn sie nur zuzuhören und zu empfangen wissen.

Das Licht der Gerechtigkeit

In einem Brief an die Arche schrieb Jean: „Ich war beeindruckt von der unendlichen Schönheit und Fähigkeit zur Liebe, die in jedem Menschen verborgen ist.“ In einem anderen Brief schrieb er: „Gott ist in der verletzlichen Person verborgen: Wir werden geheilt und zur Liebe erweckt durch die Freundschaft und die Gemeinschaft mit den Ärmsten und Verletzlichsten.“

So wird das Wort, das Jean hörte, das eines Propheten – des Propheten Jesaja –, der laut und deutlich verkündet, was Gott gefällt: … die Fesseln des Unrechts zu lösen und die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen und jedes Joch zu zerbrechen (Jes 58,6). Wie können wir angesichts der unendlichen Schönheit und Fähigkeit jedes Menschen nicht überwältigt sein, wenn wir entdecken, wie kostbar jede/r Einzelne ist! Wie können wir uns dann nicht dazu verpflichten, ­jede Person von den Bindungen der Ungerechtigkeit zu befreien, die sie binden? Wie können wir uns dann nicht anderen Menschen gegenüber verpflichten, dass die internen und externen Joche, die sie unterdrücken, verschwinden? Wie können wir nicht danach streben, dass die durch Verachtung, Ausgrenzung und Gleichgültigkeit Unterdrückten durch Respekt, Rücksichtnahme und Mitgefühl wieder die Freiheit der Kinder Gottes finden?

Wenn die Arche das Zeichen dieses prophetischen Wortes ist, dann wird sein Licht in der Dunkelheit aufgehen und seine Finsternis sein wie der Mittag (Jes 58,8.10). Dies ist die Arche: ein Zeichen, das viele erleuchtet, die das wahre Leben suchen.

Die Arche ist ein Zeichen, weil sie ein Geheimnis der Beziehung und des Mitgefühls ist, in dem sich die Herzen zum Frieden vereinen. Jean Vanier war der Bote. 1988 schrieb er: „In einer Welt, die die Menschen ständig ermutigt, die Sprossen der ­sozialen Leiter hinaufzusteigen, lehrt uns der ­Heilige Geist, bis zum unteren Ende der Leiter hinabzusteigen, um das Licht in den Herzen der Armen zu finden. Das scheint verrückt, sogar unmöglich.“

Gott segnete die Arche seit ihrem Anfang am 5. August 1964 mit ihren drei Gründern: Philippe, Raphaël und Jean. Die Arche wird immer Gottes Segen haben, weil Menschen mit geistigen Behinderungen auch in Zukunft die Arche gründen werden, sei es in neueren oder schon länger bestehenden Arche-Gemeinschaften oder in neuen Gemeinschaften, die an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt entstehen werden.

Gott, der du unendlich gut bist, segne die Arche durch die Hände der Verletzlichen! Gott, der du unendlich barmherzig bist, heiße deinen Diener Jean in deinem Königreich willkommen, der uns diese Worte hinterlassen hat: „Lasst uns das Geheimnis, das Gott uns anvertraut hat, weiter vertiefen, nämlich dass Gott gegenwärtig ist, verborgen in denen, die verwundbar und zerbrochen sind; wenn wir sie willkommen heißen, heißen wir Gott willkommen.“

Übersetzung: Thomas Bastar, Arche Deutschland

Pierre d’Ornellas ist Erzbischof von Rennes und Vertreter der katholischen Kirche in Frankreich bei L‘Arche International.
Jean Vanier (1928-2019), Gründer der christlichen Arche-Gemeinschaften.

Bild: Elodie Perriot / Arche
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