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Kopfglaube und Herzzweifel

Unsere inneren Schutzstrategien

Ursula Schmidt – Die Bibel ist voll von Liebesbekenntnissen Gottes an uns. Welch ein Schatz: sich ganz persönlich geliebt wissen zu dürfen von dem Vater im Himmel! Er liebt uns mit Haut und Haar, so wie wir heute sind. Er liebt uns auch so, wie wir in unseren schlimmsten Momenten waren – oder sein werden. Das ist die Grundlage, das Fundament, und der alles bestimmende Rahmen unseres ­Glaubens. So betet Paulus, dass wir in der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet sein mögen (Eph 3,17).

Aber wenn wir ehrlich sind, müssen viele von uns zugeben, dass sie von dieser Liebe Gottes zwar viel wissen, sie aber nur selten spüren. Erfahrungen seiner Nähe sind eher die Highlights als das allgegenwärtige Fundament unseres Lebens. Im Alltag ist unser Herz oft gleichgültig, genervt oder zweifelnd. Wir spüren nicht den Reichtum von Gottes Liebe, sondern eher Mangel, Einsamkeit, Traurigkeit, und einen Hunger nach Liebe und nach Leben.

Manche gehen sogar so weit, dass sie sich fragen: Darf ich denn die Nähe Gottes spüren? Steht mir das überhaupt zu? Muss ich nicht auch ohne Gefühle glauben können?

Somit bleibt die Frage nach unserem Mangel, nach unserer Not und nach unserer Verletztheit offen. Wir erleben in unserem Glauben eine Spaltung zwischen Kopf und Herz. Unsere Beziehung zu Gott ist gerade in den schwierigen Phasen unseres Lebens oft von Zweifeln, Unverständnis bis hin zu Enttäuschung, Bitterkeit und Gottes­ferne geprägt. Wo bleibt die erfahrbare ­Nähe Gottes gerade in den schwersten Zeiten?

Beziehung ist wesentlich

Beziehung ist einer der wichtigsten schützenden Faktoren, wenn es um „Resilienz“, also seelische Widerstandskraft in schwierigen Lebenssituationen, geht. Kinder und Erwachsene, die in sicheren Beziehungen leben, verarbeiten bedrohliche und traumatische Situationen weit besser als jemand, der das alleine tun muss. Helfer in Flüchtlings­lagern berichten von Kindern, die die dramatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht anscheinend fast unbeschadet überstanden haben, weil sie die ganze Zeit mit einem fürsorglichen, ihnen zugewandten Elternteil zusammen waren. Andere dagegen sind tief traumatisiert, gerade so, wie ihre durch die schlimmen Erfahrungen innerlich verschlossenen Eltern auch.

Gute Bindung in Beziehungen bildet also eine Art „Immunschutz“ gegen Trauma. Das gilt für die Beziehung zu nahen Bindungspersonen ebenso, wie für die Bindung an Gott. Andrew Miller, der Begründer der Trauma-Seelsorgearbeit Heart Sync, sagt immer wieder: „Es ist nicht die Frage, ob wir als Christen leiden werden. Natürlich ­werden wir in dieser Welt leiden. Aber es ist die Frage, ob ich allein leide oder mit Christus.“

Schutzstrategien des Herzens

Wo aber diese sichere Beziehung in schlimmen Situationen nicht ausreichend vorhanden ist, da wird es nötig, dass wir uns innerlich selbst schützen, um die erfahrenen Verletzungen, die empfundene Angst und den Schmerz irgendwie zu bewältigen und gleichzeitig weiterleben zu können. Wir versuchen so, uns einerseits vor weiteren Verletzungen von außen zu schützen, wie auch vor überwältigenden Gefühlen, die uns von innen her zu überrollen drohen und uns haltlos und handlungsunfähig zurückließen.

Stattdessen laden wir einem Teil unseres Herzens stellvertretend die schrecklichen Gefühle der ­Erfahrung / des Traumas auf, lagern diesen Herzensteil in Unbewusste aus (d.h. es kommt zu einer Verdrängung bzw. Abspaltung) und schützen ihn zusätzlich durch verschiedene Strategien (s.u.). Dieses Vorgehen ermöglicht uns überhaupt erst eine Weiterentwicklung und ein Reifen der restlichen Persönlichkeit. Wesentlich ist hier, dass diese Schutzstrategien aus tiefster Not und Verzweiflung entstanden sind, denn unsere Erfahrung in dieser gefallenen Welt war oft genug: „Da ist keiner, der mir hilft. Ich bin ganz allein!“

Nach außen: Schutz vor weiteren Verletzungen

  • Rückzugsverhalten ist eine häufige Schutzstrategie: Niemanden mehr an sich heranlassen, niemanden mehr brauchen müssen, besser gleich allein zurechtkommen. Dieser abgespaltene Herzensanteil denkt: „Sollen die doch machen, was sie wollen; Hauptsache, sie lassen mich in Ruhe.“
  • Kontrolle und Überwachsamkeit sind Strategien gegen überraschende Verletzungen: Wer unab­ässig andere Personen in seinem Umfeld daraufhin scannt, ob von ihnen Gefahr droht, ist ständig auf der Hut und kann am Ende gar nicht mehr entspannen.
  • Auch Anpassung kann ein Versuch sein, sich zu schützen: Mit der Einstellung „was willst du, dass ich tun soll?“ erfülle ich möglichst alle Erwartungen – ganz gleich ob reale oder auch nur vermutete. Dann bleibt hoffentlich kein Grund mehr, dass der andere mich ablehnt und verletzt.

Eine der Anpassung entgegengesetzte, aber genauso wirksame Schutzstrategie liegt in der Aggression: In einer Aggression nach außen werden Mitmenschen heruntergemacht und kritisiert. Indem ich meine Person über die anderen stelle, wird deren Kritik abgewehrt, oder ich werde schon gar nicht mehr kritisiert, weil andere Angst vor mir haben.

Oder ich werde gleich mein eigener Ankläger, im Sinne einer Aggression nach innen – gegen mich selbst: „Da weiß ich wenigstens von wem die Schelte kommt“, d.h. ich versuche sie vorweg zu nehmen.

Nach innen: Schutz vor überwältigenden Gefühlen

  • Die nach innen gerichteten Strategien sind weit schwieriger zu identifizieren, folgen jedoch meist einem von drei Mustern:
  • Ich verdränge oder verharmlose die Erinnerung an das Schlimme. (Es war gar nicht schlimm.) Das geht auch fromm: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist (Philipper 3,13).
  • Ich überdecke die Schmerzen und die Leere in mir z.B. mit vielen (oberflächlicheren) Beziehungen oder mit Aktivitäten in der Gemeinde oder mit vollem Engagement für meine Karriere.
  • Ich werte Emotionen ab, schalte sie ab oder lasse sie nicht zu.

Diese Strategien haben wir entwickelt, um weiterleben zu können, ohne beständig von unerträglichen Gefühlen geplagt zu werden. Und ursprünglich haben sie diesen Zweck auch voll erfüllt!

Verletztes Herz und die Nähe Gottes

Gott hat unser Herz mit diesen Möglichkeiten zum Selbstschutz geschaffen, weil er wusste, dass wir in einer gefallenen Welt anders nicht über­leben können. Schutzstrategien sind eine von Gott geschaffene Fähigkeit unseres Herzens! Aber diese Fähigkeit ist beschädigt und gefallen. Gerade Kinder in Not sind besonders wehrlos und solche Schutzstrategien entstehen oft im Kindesalter. Sie sind verbunden mit kindlichen Emotionen und kindlichen Überzeugungen (Die Mutter gibt mir nicht, was ich brauche. Also brauche ich die Mutter auch nicht und sorge allein für mich. Dann tut es nicht mehr weh.) Da diese Bereiche unseres Herzens abgeschnitten werden mussten, konnten sie auch nicht weiterlernen, wie der Rest unserer Persönlichkeit. Das heißt, sie blieben oft auch bei unserer Hinwendung zu Gott unbeteiligt und unbeeinflusst. So haben wir heute in uns ­einerseits erwachsene Bereiche, die wissen und glauben, dass Gott liebevoll auf uns schaut und immer an unserer Seite ist. Daneben gibt es aber kindliche Bereiche des Herzens, die davon unbeeinflusst immer noch die Angst, die Verletzung, die Einsamkeit von damals fühlen. Leider lassen wir mit dem Schutz gegen die unerträglichen schmerzhaften Gefühle zugleich die konstruk­tiven Gefühle nicht mehr zu: Dann können wir selbst in der Nähe von Freunden nicht entspannen und auch die Liebe Gottes oft nicht spüren.

So verhindert unsere Schutzstrategie gerade das, was wir am dringendsten zu unserer Heilung ­nötig hätten: Nähe, Beziehung, tiefe Herz-zu-Herz-Bindung an Menschen und an Gott. Wir verschließen uns also nicht nur gegenüber verletzenden Menschen, sondern auch gegenüber Jesus.

Heilung in der Tiefe

Wenn nun solche tiefsitzenden Verletzungen in uns geheilt werden sollen, müssen wir diejenigen Anteile des Herzens in den Blick nehmen, die Schutzstrategien zur Anwendung bringen. Immer mit dem Wissen: Sie haben uns das Weiterleben überhaupt erst ermöglicht. Dafür gebührt ihnen Dank! Sie sind ein von Gott geschaffener Anteil unseres Herzens, und das selbst dann, wenn sie sich heute aufgrund alter Erfahrungen gegen Gott verschließen. Sie hatten nur durch die Mechanismen der Verdrängung und Abspaltung keine Chance, ihm selbst zu begegnen. Sie kennen ihn nicht, weil sie der Überzeugung waren und sind, dass man ganz allein ist in der Not. Wie sollen sie da heute Gott vertrauen?

Wenn wir also versuchen, diese Teile unseres Herzens mit dem Kopf ins Vertrauen zu zwingen, wird das nicht gelingen. Solche Herzensteile brauchen reale Erfahrungen der Nähe und Liebe Gottes, keine Belehrungen. Genauso wenig ist es hilfreich und zielführend, wenn wir dieses Misstrauen gegenüber Gott für sündhaft oder dämonisch halten, und dann versuchen, es einfach loszuwerden, indem wir darüber „Buße tun“, es „am Kreuz ablegen“, oder die Zweifel durch „Proklamieren“ von biblischen Wahrheiten mundtot machen.

Das ist in den meisten Fällen nichts anderes als ­eine Verweigerung der Aufarbeitung. Deshalb wird es diese Anteile nur tiefer in die Verdrängung und Abkapselung treiben, statt sie für die Liebe Jesu zu öffnen. Sie brauchen stattdessen unser Verständnis: „Ja, es gab gute Gründe, so zu reagieren. Ja, damals habe ich tatsächlich Schlimmes erlebt, das ich anders nicht bewältigen konnte. Sprich, mein Herz; ich will dir zuhören und dich ernst nehmen!“

Ein guter Seelsorger, Therapeut oder Traumabegleiter kann uns dabei helfen. Oft gelingt es uns ohne solche Hilfe gar nicht, mit dem in Kontakt zu treten, was in uns verborgen, verdrängt und abgelehnt ist.

In einer Haltung der liebevollen Wertschätzung begegnet Jesus dann den verwundeten Teilen ­unseres Herzens. Erst dadurch können sie sich allmählich für ihn öffnen, seine Nähe zulassen und schließlich seine Heilung erfahren. Wieder und wieder erlebe ich in der Seelsorge, wie die Stimme des Guten Hirten sehr sanft zu diesen Schutz­strategien und Blockaden in uns etwa folgendes spricht:

„Gut, dass du da bist. Du setzt alles daran, das Herz vor Enttäuschung und Verletzung zu schützen. Vielen Dank! Für diesen Schutz habe ich dich geschaffen: dass du nicht auf leere Worte hereinfällst; dass du dich nicht in Hoffnungen rein­steigerst, die trügerisch sind; dass du echte Liebe von gefährlicher Nähe unterscheidest. Deswegen bist du ein wichtiger Anteil des Herzens!

Es tut mir leid, dass du ganz allein versucht hast, den Schmerz zu bewältigen. Mit aller Kraft hast du dich bemüht, das Herz zu schützen. Aber dafür bist du nicht geliebt, sondern verurteilt worden, wenn man dich bemerkt hat: als Sünde, als Haltung des Unglaubens, als Störenfried, der den Frieden und die Harmonie trübt. Ja, du bist noch getrennt von mir. Aber du bist zur Beziehung mit mir geschaffen! Es tut mir leid, dass du mir, dem wahren Jesus, noch nicht begegnet bist. Der Kopf hat verhindert, dass du gehört wurdest. Weil ­deine Bedenken und Einwände nicht willkommen ­waren.

Du kennst aufgrund der Erfahrungen deines ­Lebens nur Bilder von mir, die nicht wirklich zutreffen: dass ich zu schwach wäre, dir wirklich zu helfen; dass ich Forderungen an dich stelle, ehe ich dich lieben würde; dass ich kritisch und ablehnend auf dich schaue. Aber ich werde dich nicht brechen oder überrennen, denn ich liebe dich! Ich halte deine kritischen Fragen aus und beantworte sie nicht mit Erklärungen, sondern will dir neue Erfahrungen schenken.

Wenn du erlaubst, würde ich mich dir gerne ­zeigen, wie ich wirklich bin.“

Wenn wir es so wagen, ganz ehrlich zu werden, dann kann Jesus uns da begegnen, wo die Verletzung sitzt: tief in den emotionalen, meist wenig oder gar unbewussten Bereichen unseres Herzens. Geschulte Seelsorger können uns auf diesem Weg, der oft mit inneren Bildern einhergeht, begleiten. Mit großer Sanftheit zeigt sich Jesus als der wahre Gute Hirte, als der, der unsere schlimmsten Wunden kennt, das Misstrauen versteht, unsere Schmerzen auf sich nimmt und die Verletzungen verbindet.

Manchmal fühlt sich dieses Echtwerden an, als würden wir in den Anklagen und dem Misstrauen gegen Gott unseren Glauben verlieren. Aber ich kenne keinen besseren Weg, um einen Glauben zu gewinnen, der nicht nur im Kopf sitzt, sondern auch in den Tiefen unseres Herzens erfahrbar ist.

Ursula Schmidt ist evangelische Theologin. Sie und ihr Mann Manfred arbeiten vollzeitlich in einem überregionalen Lehrdienst für Gemeinden und Kirchen. Den Text drucken wir mit freundlicher Genehmigung des NIS-Reports #20, in dem er zunächst erschienen ist. www.nis-netzwerk.de/der-nis-report/

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Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2023: Ganz im Vertrauen
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