Tragfähig  – Flugbegleiter auf dem Weg in die Selbstständigkeit

Ralph Pechmann  –

Wenn ihr auch zehntausend Erzieher hättet in Christus, so habt ihr doch nicht viele Väter in Christus, denn ich ­habe euch gezeugt in Jesus Christus durchs Evangelium. Darum ermahne ich euch: Folgt meinem Beispiel! (1 Kor 4,15+16).

Das mutet recht steil an, was Paulus einst an die junge Christengemeinschaft in Korinth geschrieben hat. Dabei tun und taten wir alle nichts anderes, als das Lebensbeispiel unserer Väter und Mütter nachzuahmen, bis sich auf dem Weg in die Selbstständigkeit ein prüfender, kritischer Abstand einstellt.

Eltern prägen

Die elterlichen Prägungen – im Guten, wie im Schwierigen – stellen uns vor die Aufgabe, sie ins eigene Leben einzufügen, umzugestalten oder auszusortieren. Selbst wenn wir großen Abstand zu den Eltern suchen, nehmen wir ihre Prägungen mit. Niemandem sind und bleiben wir so nah. Keinen erleben wir so mächtig und verletzlich wie sie. Eltern sind die ersten Vorbilder in unserem Leben, die sich keiner erwählt hat, die uns nachhaltiger prägen als viele andere Menschen. An ihrem Du werden wir zum Ich; sie ­legen den Grund, auf dem wir weiterbauen.

Keiner verlässt mit fertigen Vorstellungen sein Elternhaus. Viele spüren erst jetzt, was ihnen noch alles fehlt, und eine Suche nach Menschen beginnt, an deren Lebens- und Redeweise, an deren Körpersprache sich das eigene Leben, Glauben und Denken aufrichten und zu einem eigenen Sinngefüge fügen kann. Wir halten Ausschau nach Menschen, die uns mit ihrem Verhalten Vorlagen bieten, uns Orientierungsgeber, Geburtshelfer und Wegbegleiter für bestimmte ­Lebensabschnitte werden.

Vorbilder erleben

Im Ringen um ein gelingendes Leben brauche ich Menschen, an denen sich meine Prägungen und Puzzleteile zu einem Ganzen fügen, das sich als tragfähig erweist. Vorbilder sind Menschen, die etwas Wesentliches gefunden haben und sich nicht vorenthalten, aber auch nicht anpreisen. Menschen, die ihre Gaben, Grenzen und Gefahren kennen, sie bejahen und schöpferisch in ihr Leben einzubinden wissen. Sie wissen um ihre Fehler, lernen aus ihnen, leben aus der Umkehr. Sie können seelsorgerliche Menschen, geistliche Berater, Mentoren, Pädagogen sein. Wo wir zu ­ihnen in Beziehung treten, motivieren sie uns zum Lernen, Wachsen und Reifen.

Paulus beschrieb es in den Worten: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Er betonte damit: Ich habe mich aus der Hand eines anderen empfangen, der in mir Wohnung genommen hat. Wer er durch Christus war, das merkten und prüften die anderen an der Weise seines Redens, Lebens und Tuns. Als Frucht ­einer entschlossenen Nachfolge, nicht einer halbherzigen, reift die Selbstannahme, denn „… einem Vorbild nachzustreben heißt nicht, es nachahmen, sondern sich selbständig zu verhalten lernen, wie dieses es getan.1, kommentierte ein Schriftsteller dies Geschehen.

Solche Begegnung ist ein Geschenk. Im Gegensatz zu den unzähligen Ratgebern und Anleitungen, klugen, aber auch solchen, die die Sehnsucht nach Orientierung, Beziehung und Gebrauchtwerden für sich zu nutzen wissen. Wir haben zu unterscheiden. Ratschläge sind wie Hinweisschilder, die uns in jede Richtung einen Weg weisen, aber sie sind keine Wegbegleiter.

Begegnung mit einem Vorbild

Kurz vor seiner Volljährigkeit wurde A. polizeilich aus einer sogenannten Jugendreligion herausgeholt und landete in einem Retraitehaus. Nach zwei ­Wochen kam L., ein katholischer Theologe und Lehrer. Er zeigt Interesse an ihm, fragte nach seiner Entscheidung für diese Gruppe. L. wollte mit ihm über ihre Lehre sprechen, betonte aber, dass er sich an Christi Botschaft orientiere. „Ich kann dich hier nicht festhalten, bitte dich aber, bis zu deiner Volljährigkeit zu bleiben“, ergänzte er. Sein Vertrauen und Verstehen-Wollen machten es leicht, sich durch ein Jawort zu binden. Nach drei Tagen Gespräch suchten sie gegen Abend zum Gebet die Kirche auf. Stunden rang A. um Klarheit über der Messias-Frage. An ihr entschied sich für ihn alles Weitere. Die Antwort blieb offen …

Den eigenen Weg finden

Beruf und Berufung halten viele für das gleiche. Berufung umfasst das ganze Leben, ein Beruf tut dies nicht automatisch. Berufung und Beruf können sich überlappen, kommen aber selten zur völligen Deckung. Über ihre Gaben sind sich viele im Unklaren. Ebenso darüber, was der sinnvollste Berufsweg ist, der über viele weiteren Schritte vorentscheidet. Entscheidung heißt, eines bevorzugen und vieles andere ausschließen. Gabenorientierte Berufsfindung weist über den Arbeitsplatz hinaus, ist aber der Anfang eines Lebensweges.

Rabbi Bär von Radoschitz bat einst seinen Lehrer, den „Seher“ von Lublin: „Weiset mir einen allgemeinen Weg zum Dienste Gottes!“ Der Zaddik2 antwortete: „Es geht nicht an, dem Menschen zu sagen, welchen Weg er wählen soll. … Jedermann soll wohl achten, zu welchen Weg ihn sein Herz zieht, und dann soll er sich diesen mit ganzer Kraft erwählen.“3 Vorbilder haben nicht zu raten, was einer tun oder lassen soll. Sie helfen, die Sehnsucht des Herzens zu merken, sie zu verstehen und zu entdecken, wohin es einen zieht.

Aus Erfahrung lenkt der Seher von Lublin unseren Blick und das Gehör auf das Herz. Dort kommen wir mit unseren Leidenschaften in Berührung, „denn was die Augen sehen (und die Ohren hören), das entscheiden nicht die Augen (noch die Ohren), sondern unser Herz“. Dieser Gedanke Martin Bubers begleitet mich seit Jahren. Was wir meistens sehen, sind unsere ungezähmten Kräfte und Leidenschaften, die uns zur Flucht oder Resignation verleiten. Stattdessen wollen sie gezähmt und gestaltet – nicht unterjocht – werden. Es bleibt meine Verantwortung, mich dem zu stellen. Keiner kann hier die Tür für einen anderen öffnen, soll es ein Weg in die Freiheit und Freude werden. Es ist ein learning by doing. Im Tun werden wir sicherer.

Oft hindern uns Selbstzweifel daran, Neues zu wagen, über die eigenen Mängel hinaus zu sehen. Dabei sind unsere Mängel und Fehler oft unser bestes „Kapital“, wenn wir den Mut finden, sie zu befragen und auf ihre Botschaft zu hören. Sie können sich in Springsteine verwandeln, auf denen wir die Spur des eigenen Lebensweges finden und mit Kraft verfolgen.

Rabbi Sussja bemerkte eindringlich: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‚Warum bist du nicht Mose gewesen?‘ Man wird mich fragen: ‚Warum bist du nicht Rabbi Sussja gewesen?‘“4 Mit jedem Menschen kommt etwas Neues in die Welt, das fehlen würde, wenn er sich mit seinem Leben vorenthielte. Denn Liebe heißt: Hinzufügen was fehlt. Am Vorbild wird mein Gespür für die eigene Lebensmelodie geweckt und geschärft. Ihre leise, unsichtbare Gegenwart ist es, die uns zu uns selber finden lässt. Vorbilder vertiefen, was die Eltern begonnen haben.

Begegnung mit einem Vorbild

Nach den Stunden in der Kirche zogen sie im Dunkel der Mainacht durch die Felder und sprachen über ihre Erfahrungen. Kurz vor dem Haus hörte A. seinen Namen. Der Landesleiter der Sekten­gemeinschaft stand mit seinem Wagen im Schatten eines Lkws. A. ging hin. „Willst du mitfahren?“, wurde er gefragt. „Ich habe versprochen, bis zu meiner Volljährigkeit zu bleiben“, antwortete A.
L. kam auf den Leiter zu, reichte ihm seine Hand zum Gruß, die der andere ergriff. Es dauerte einen Moment. A. sah verwundert, wie der Arm des Landesleiters immer heftiger zitterte. Dann riss er sich los und fuhr davon. Verwundert schauten sie hinterher, gingen stumm ins Haus. L. meinte nur, er sei durch die Gebetsstunden offen für Gottes Gegenwart gewesen und ging schlafen. A. holte sich ein Buch und landete bei der Legende des Christophorus. Von dessen Suche nach dem stärksten Herrn, dem er bereit war zu dienen, hatte A. bis dahin nichts gehört. Christophorus lebte nach langer Suche an einer Furt, um mit seiner Kraft die Menschen über den reißenden Fluss zu tragen und wartete darauf, dass sich Christus ihm offenbaren würde. Da ist es ein Kind, das darum bittet, über den Fluss getragen zu werden. Das Kind wurde immer schwerer und Christophorus drohte zu ertrinken: „Wer bist du?“ – „Ich bin der, den du suchst.“ ­Lesend wurden A. die Augen geöffnet über dem ­Geschehen zwischen dem Landesleiter und L. Die Erzählung deutete ihm das Erfahrene und setzte sein Vertrauen in Christus frei.

Zwischen Himmel und Erde

Von Abba Antonius, einem der Wüstenväter, ist der Spruch überliefert: „Wenn du siehst, dass ein junger Mönch (Mensch) mit seinem eigenen Willen nach dem Himmel strebt, halte seine Füße fest, ziehe ihn nach unten, denn es hat für ihn keinen Nutzen.“5

Wer hat in seiner Jugend nicht von großen Visionen geträumt, die Verbesserung der Welt herbeigewünscht? Ohne die Erdung, mit beiden Beinen im Lebensalltag zu stehen, wird das Streben zum Himmel (nach einer besseren Welt) zum lebensfeindlichen Idealismus. Antonius empfiehlt, „sich erst mit (der) eigenen Realität auseinanderzu­setzen“, die „Leidenschaften“ anzuschauen und mit ihnen zu kämpfen6. Nicht die Ideale sind das Problem, sondern die Zähmung der Leidenschaften, damit unser Idealismus nicht in Resignation oder Bitterkeit endet. Wir können uns schnell überschätzen und unsere Lebenswirklichkeit unterschätzen. Eine Versuchung jeder jungen Genera­tion ist es, mit den Flügeln des Glaubens über die Abgründe des eigenen Lebens und anderer Menschen hinweg zu schweben. Die Wirklichkeit meines Alltags nötigt mich zur Geduld, über die Höhen und durch die Tiefen zu wandern und an ihnen zu reifen. Mein berufsbezogenes Wissen und Können braucht ein geistliches Charaktertraining.

Die ungezähmten Bedürfnisse sind es, die in die Zerstreuung führen. Nicht nur in der Jugend und der Lebensmitte, sondern ebenso im Alter. Ohne geistliche Verwurzelung wird der Himmel zum Selbstbetrug statt zur Menschenliebe. Ohne Geduld mit uns und anderen führen Freude, Not und Leidenschaft nicht in echte Beziehungen, sondern in fromme Einsamkeit, weil wir unsere langsamen Veränderungen nicht schätzen, sondern verachten. Geduld ist im Scheitern immer versucht, in Resignation oder Bitterkeit umzuschlagen. Menschenliebe und Himmelssehnsucht finden darüber nicht zueinander. Die eigene Realität zu erkennen, anzuerkennen und lieben zu lernen, ist der Schlüssel zum eigenen und zu den Herzen der Menschen.

Flügel wachsen

In einem Gespräch erzählte jemand nach fünf Jahren Leben in Gemeinschaft: „Hier sind mir Flügel gewachsen. Ich möchte wieder fliegen.“ Überrascht von dieser Freude brach er auf. Er glich einem Segelflieger, der eine Starthilfe bekommen hatte, um in Bewegung zu kommen. Er wollte fliegen lernen, die tragende Thermik unter seinen Flügeln spüren. Voraussetzung zum Fliegen sind die Trockenübungen am Boden, ehe es in die Luft (der Gottessehnsucht) geht. Selbst dann bleibt es Pflicht, weiterhin am Boden zu üben, um in der Weite des Himmels die Balance zu halten und nicht dem Höhenrausch zu erliegen. Was im Bild die Propellermaschine ist, das sind in unserem Leben die Vorbilder. Sie üben mit uns geduldig am Boden fürs Abheben in die Luft. Wenn wir zu früh aufbrechen wollen, halten sie uns zurück. Uns selbst mit ihren Augen sehen lernen und das Ich realistisch einzuschätzen, ist eine Übung des Vertrauens und des Gehorsams. In der Spannung von Bodenständigkeit und Gottessehnsucht wachsen wir. Sie bringt eine Frucht hervor, die ein Leben lang reift. Der Psychologe Erik Erikson beschreibt sie mit den Worten: „Mit ‚Vertrauen‘ meine ich das, was man im Allgemeinen als ein Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens kennt, und zwar in Bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit meiner selbst … Das Urvertrauen ist der Eckstein der gesunden Persönlichkeit.“7

Begegnung mit einem Vorbild

Die folgenden sechs Wochen wohnte A. bei L.s Familie. Es waren Tage unzähliger Gespräche und neuer Sichtweisen. Sein Schritt in  ein eigenverantwortliches Leben brauchte geistige und geistliche Zurüstung. Er nahm teil an L.s Unterricht in einer Berufsschule. Der unterrichtete Jugendliche, die weder Schulabschluss noch Lehrvertrag hatten. Sein Unterricht pendelte ständig zwischen ihren Lebensfragen nach Sinn und Glauben, ihrer Lebenspraxis und der Einübung in ein eigenständiges Leben. L. richtete eine Schulküche ein, damit die Jugendlichen kochen lernten. Er ließ sie in seinem Keller boxen, damit sie lernten, nach Regeln zu kämpfen, sich selbst zu erspüren und so Selbstvertrauen zu gewinnen. Sie lernten nicht nur besser schreiben, sondern auch Skat spielen, weil sie sonst in den Mittagspausen am Arbeitsplatz viel Geld verloren hätten. Durch diese Beobachtungen spürte A. die Richtung für seinen Berufsweg. Zum Geburtstag seiner Volljährigkeit hatte L. einen Freund eingeladen. Als Spätberufener studierte er ev. Theologie, erzählte von seinem Lebensweg und schenkte ihm ein Buch mit persönlicher Widmung, das seine Entscheidung dazu wesentlich beflügelt hatte: Widerstand und Ergebung von Dietrich Bonhoeffer.

L. war A. zum Vorbild geworden auf seinem Lebens­weg.

Ralph Pechmann (OJC) ist im Ruhestand. Er begleitet die Assoziierten der Kommunität, hält Bibelarbeiten und Vorträge.

Anmerkungen:
1 Ralph-Rainer Wuthenow: Vorbilder-Literaturmagazin 10, Reinbek 1979, S. 11
2 Chassid.: Zaddik (der Gerechte), als heilig verehrter Lehrer
3 Martin Buber: Der Weg des Menschen nach der chassidischen  Lehre, Heidelberg 19869, S. 14
4 Ebenda: S.16
5 Anselm Grün: Der Himmel beginnt in dir, Freiburg 20003, S.20
6 Ebenda, S. 20
7 Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 19795, S. 62+63
Bild: Leonid Plotkin / Alamy Stock Foto
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