Collage eines Anzugträgers mit Kaninchenkopf

Sei ein Mensch, kein Kaninchen – Ist das Christentum eigentlich wahr?

C. S. Lewis –

Ehe ich versuche, darauf zu antworten, muss ich etwas vorwegnehmen. Die Frage klingt, als wäre sie von jemandem gestellt worden, der zu sich selbst sagte: „Es ist mir gleichgültig, ob das Christentum wahr ist oder nicht. Was soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen, ob es besser ist als andere Weltanschauungen. Aber eines möchte ich wissen: Wie kann ich ein guter Mensch sein? Mein Glaube muss nicht unbedingt wahr sein; aber ich stelle mir vor, er könnte mir nützlich sein – darum beschäftige ich mich mit dieser Frage.“

Offen gestanden: Es fällt mir schwer, für eine solche Haltung Sympathie aufzubringen. Eine der Eigenschaften, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet, ist doch seine Wissbegierde: Er will den Dingen auf den Grund gehen, er will die Wirklichkeit erforschen – einfach um der Erkenntnis willen.

Neugier

Die christliche Botschaft selbst erhebt den Anspruch, ein Tatsachenbericht zu sein. Sie will Ihnen über die Wirklichkeit Auskunft geben. Vielleicht sind ihre Aussagen wahr, vielleicht auch nicht. Da Sie nun aber einmal vor diese Frage gestellt sind, muss Ihre natürliche Wissbegierde Sie doch dazu treiben, die Antwort zu suchen. Wenn das Christentum nicht wahr ist, dann wird kein aufrichtiger Mensch daran glauben wollen, auch wenn es noch so nützlich wäre. Ist es aber wahr, dann wird jeder aufrichtige Mensch daran glauben wollen, selbst wenn es ihm überhaupt nichts nützen sollte.

Wenn das klargeworden ist, so folgt daraus gleich ein zweites: Nehmen wir einmal an, das Christentum ist wirklich wahr; der eine kennt diese Wahrheit, der andere nicht. Dann ist es aber doch ganz und gar unmöglich, dass beide gleich gut ausgerüstet sind, um gute Menschen zu sein. Denn das, was wir über die Wirklichkeit wissen, hat einen Einfluss auf unser Tun.

Ein Christ und ein Nichtchrist möchten vielleicht beide ihren Mitmenschen Gutes tun. Der eine glaubt, dass die Menschen ewig leben, dass sie von Gott erschaffen sind und darum ihrem Wesen nach wahres und bleibendes Glück nur in der Gemeinschaft mit Gott finden können, dass sie sich jedoch arg verrannt haben und dass gehorsamer Glaube an Jesus Christus der einzige Weg zurück ist.

Der andere glaubt, dass die Menschheit ein Zufallsprodukt blind waltender Materie ist, dass sie von den Tieren abstammt und eine mehr oder weniger stetige Aufwärtsentwicklung durchgemacht hat, dass der Mensch etwa siebzig Jahre alt wird, dass gute soziale Einrichtungen und politische Organisationen sein Glück voll gewährleisten und dass alles andere (z. B. Geburtenkontrolle, Gesetzgebung, Erziehung) einfach als „gut“ oder „schlecht“ zu taxieren ist, insofern es diese Art von Glück fördert oder hindert.

Natürlich können diese beiden in ihrem Dienst am Mitmenschen über viele Dinge gleicher Meinung sein. Beide werden gewiss eine ausreichende Kanalisation, gute Krankenhäuser und eine gesunde Ernährung gutheißen. Aber früher oder später müssen ihre Glaubensunterschiede auch zu Meinungsunterschieden in praktischen Fragen führen.

Glück

Zur Beurteilung irgendeines Vorschlags wird der Materialist einfach fragen: „Kann seine Verwirklichung die Mehrheit glücklicher machen?“, während der Christ vielleicht sagen muss: „Selbst wenn die Mehrheit dadurch glücklicher würde, können wir es nicht tun. Es wäre ungerecht.“ Und ein großer Unterschied wird sich auf jeden Fall durch all ihre Entscheidungen ziehen: Dem Materialisten müssen Einrichtungen wie Staat, Klasse, Kultur wichtiger sein als der einzelne Mensch; denn das Individuum lebt nach seiner Auffassung nur etwa siebzig Jahre, während soziale Gruppierungen Jahrhunderte überdauern können. Dem Christen hingegen ist der einzelne Mensch wichtiger, denn er lebt ewig; Rassen, Zivilisationen und dergleichen sind daneben nur Eintagsfliegen.

Das Weltbild des Christen ist also ganz anders als das des Materialisten. Sie können nicht beide recht haben. Derjenige aber, der unrecht hat, wird in einer Art und Weise handeln, die der Wirklichkeit einfach nicht angepasst ist. Darum wird sein „Helfen“ zur Zerstörung seiner Mitgeschöpfe beitragen, auch wenn er noch so gute Absichten hat.

„Auch wenn er noch so gute Absichten hat“ . . . – dann ist es aber nicht seine Schuld. Und Gott (wenn es ihn überhaupt gibt) wird doch niemanden für Fehler bestrafen, die er aus bloßer Unwissenheit begeht?

Aber: War das Ihr ganzer Kummer? Wollen wir das Risiko eingehen, unser Leben lang im Dunkeln zu tappen und unermesslichen Schaden anzurichten, wenn wir nur die Versicherung haben, dass wir ungeschoren davonkommen und niemand uns bestrafen oder auch nur tadeln wird? Ich möchte nicht annehmen, dass mein Leser auf dieser Stufe steht. Aber selbst wenn er es täte, müsste ich ihm etwas dazu sagen.

Glaube

Die Frage, vor die jeder von uns gestellt ist, heißt nicht: „Kann man ein guter Mensch sein, ohne dass man Christ wird?“ Sie heißt: „Kann ich es?“ Wir wissen alle, dass es gute Menschen gegeben hat, die keine Christen waren; Männer wie Sokrates und Konfuzius, ·die das Evangelium nie gehört haben, oder Männer wie J.S. Mill, der es einfach nicht glauben konnte. Angenommen, der christ­liche Glaube wäre wahr, dann lebten diese Männer in echter Unwissenheit oder aufrichtigem Irrtum. Wenn ihre Absichten so gut waren, wie ich annehme (denn natürlich kann ich ihre geheimsten Gedanken nicht lesen), dann hoffe und glaube ich, Gottes erfinderische Gnade wird den Schaden wiedergutmachen, den ihre Unwissenheit, bliebe sie sich selbst überlassen, ihnen und ihren Mitmenschen sonst zugefügt hätte.

Wenn mich aber jemand fragt: „Kann ich nicht ein guter Mensch sein, ohne dass ich Christ bin?“, dann hat er offensichtlich andere Voraussetzungen. Wenn er nichts vom Christentum wüsste, könnte er diese Frage gar nicht stellen. Wenn er davon wüsste und es ernsthaft geprüft und als unwahr verworfen hätte, dann würde er diese Frage auch nicht stellen. Einer, der so fragen kann, weiß vom Christentum und ist keineswegs sicher, ob es nicht wahr sein könnte. Seine Frage heißt in Wirklichkeit: „Muss ich mich damit herumschlagen, das zu ergründen? Kann ich nicht ausweichen, einfach so tun, als ob, und mir Mühe geben, gut zu sein? Genügt mein guter Wille denn nicht, um mich sicher und rechtschaffen ans Ziel zu bringen, ohne dass ich an diese leidige Tür klopfe, um herauszufinden, ob jemand dahinter ist oder nicht?“

Gutsein

Dieser Mensch verlangt tatsächlich die Erlaubnis, mit seinem „Gutsein“ durchs Leben zu kommen, bevor er alles daran gesetzt hat zu erfahren, was überhaupt „gut“ heißt; diese Antwort sollte genügen. Aber etwas muss dazu noch gesagt sein: Wir müssen gar nicht untersuchen, ob Gott ihn für seine Feigheit und Faulheit bestrafen wird; solche Leute bestrafen sich selbst. Dieser Mensch drückt sich. Er versucht absichtlich, nicht zu wissen, ob der christliche Glaube wahr oder unwahr ist, denn er befürchtet unabsehbare Schwierigkeiten, falls er sich als wahr erweist. Er ist wie einer, der absichtlich „vergisst“, einen Blick aufs Anschlagbrett zu werfen, weil er befürchtet, er könnte dort seinen Namen entdecken und irgendeine unangenehme Arbeit verrichten müssen. Er ist wie einer, der sein Bankkonto lieber nicht anschaut, weil er Angst hat zu erfahren, was dort steht. Er ist wie einer, der nicht zum Arzt geht, wenn er einen verdächtigen Schmerz zu spüren beginnt, weil er Angst hat vor der ärztlichen Diagnose.

Wer aus solchen Gründen ungläubig bleibt, ist nicht in einem Zustand aufrichtigen Irrtums. Das ist unaufrichtiger Irrtum, und diese Unaufrichtigkeit wird sein ganzes Tun und Denken prägen. Eine gewisse Verschwommenheit seiner Grundsätze, etwas Vages, Unbeständiges in seinem Wesen, eine Abstumpfung seines ganzen Urteilsvermögens wird die Folge davon sein. Er hat seine intellektuelle Keuschheit verloren. Wer Jesus Christus aufrichtig ablehnt, dessen Irrtum wird, wie groß er auch sei, vergeben und geheilt werden: „Wer immer ein Wort gegen den Menschensohn ausspricht, der wird Vergebung finden.“ Aber dem Menschensohn ausweichen, wegschauen, vorgeben, man hätte ihn nicht bemerkt, plötzlich von etwas auf der anderen Straßenseite absorbiert sein, den Telefonhörer nicht auflegen, weil Er sonst anrufen könnte, gewisse Briefe mit einer fremden Handschrift ungeöffnet lassen, weil sie von Ihm kommen könnten . . . – das ist etwas anderes! Es ist möglich, dass Sie noch nicht sicher wissen, ob Sie Christ werden sollten oder nicht. Aber eines wissen Sie sicher: dass Sie ein Mann sein sollten und nicht ein Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt.

Geheimnis

Doch immer noch liegt mir jemand mit dieser erbärmlichen Frage in den Ohren – denn die intellektuelle Redlichkeit ist tief gesunken in unserer Zeit: „Wird mir das Christentum etwas nützen? Wird es mich glücklich machen? Glauben Sie wirklich, es wäre besser, ich würde Christ?“ Nun gut, wenn es unbedingt sein muss, meine Antwort heißt: „Ja.“ Aber ich will im Augenblick eigentlich gar keine Antwort geben. Hier ist eine Türe und dahinter wartet, wenn manche Leute recht haben, das größte Geheimnis der Welt auf Sie. Entweder ist es wahr, oder es ist nicht wahr. Und wenn es nicht wahr ist, dann ist das, was die Türe tatsächlich verbirgt, schlicht und einfach der größte Schwindel, die ungeheuerlichste. Bauernfängerei. Muss es sich da nicht jeder zur Aufgabe machen – jeder, der ein Mann ist und kein Kaninchen – herauszufinden, was wahr ist? Muss nicht jeder aufrichtige Mensch seine ganze Kraft dafür einsetzen, entweder diesem überwältigenden Geheimnis zu dienen oder diesen gigantischen Humbug aufzudecken und damit aufzuräumen? Können Sie sich wirklich angesichts einer solchen Frage damit begnügen, sich einzig und allein um Ihr gesegnetes moralisches Weiterkommen zu bekümmern?

Also denn, das Christentum wird Ihnen etwas nützen, sehr viel mehr sogar, als Sie es je gewünscht oder erwartet haben. Und die erste Portion Nutzen, die es Ihnen bringt, wird Ihnen alles andere als angenehm sein: Es wird Ihnen die Tatsache in den Kopf hämmern, dass alles, was Sie bis jetzt „gut“ genannt haben – all das Gerede von „ein guter Mensch sein“ und „ein anständiges Leben führen“ – nicht ganz so eine großartige und hochwichtige Angelegenheit ist, wie Sie meinten. Es wird Ihnen beibringen, dass Sie in Wirklichkeit aus eigener Kraft gar nicht „gut“ sein können, keine vierundzwanzig Stunden lang! Und dann wird es Ihnen aufdämmern lassen, dass Sie, selbst wenn Sie es könnten, noch immer das Ziel verfehlt hätten, auf das hin Sie geschaffen sind.

Kaninchen

Nur nach sittlicher Vollkommenheit zu streben, ist kein Lebensziel. Sie sind für etwas völlig anderes gemacht worden. Die Leute, die bei der Frage stehenbleiben, ob sie nicht auch ohne Christus „gute Menschen“ sein könnten, wissen nicht, was Leben ist. Wenn sie es wüssten, so sähen sie auch ein, dass ein „anständiges Leben“ eine armselige Maschinerie ist im Vergleich mit dem, wozu wir Menschen wirklich geschaffen sind. Es ist unerlässlich, dass wir uns darum bemühen, gute Menschen zu sein. Aber das göttliche Leben, das sich uns selbst schenkt und das uns dazu beruft, Götter zu sein, will etwas aus uns machen, von dem unsere eigene Rechtschaffenheit nicht einmal ein Schatten ist.

Wir sollen neu geschaffen werden. Alles Kaninchenhafte in uns soll verschwinden – das skrupulöse, gewissenhafte, sittlich hochstehende Kaninchen ebenso wie das feige, triebhafte. Wir werden bluten und winseln, wenn wir in ganzen Büscheln unsere Haare lassen müssen. Unter dem Pelz aber wird etwas zum Vorschein kommen, was wir uns nicht im Traum hätten ausdenken können: Ein wirklicher Mensch, ein unsterblicher Gott, ein Gottessohn, stark, strahlend, weise, schön und überfließend vor Freude.

Wenn das Vollkommene kommt, dann wird das Stückwerk abgetan (1 Kor 13,1). Die Vorstellung, es ohne Christus zu einem Leben als „gute Menschen“ zu bringen, gründet auf einem doppelten Irrtum. Erstens ist es unmöglich; und zweitens haben wir den eigentlichen Sinn unseres Lebens verfehlt, wenn wir diese Art der Vollkommenheit zu unserem Endziel erheben. Sittliche Vollkommenheit ist ein Berg, den wir aus eigener Kraft nicht erklimmen können. Und wenn wir es könnten, so würden wir doch im Eis und in der dünnen Luft auf seinem Gipfel umkommen, denn uns fehlen die Flügel, mit denen allein das letzte Wegstück zurückgelegt werden kann. Denn erst hier beginnt der eigentliche Aufstieg. Pickel und Bergseil müssen dazu „abgetan“, zurückgelassen werden. Alles Übrige ist eine Sache des Fliegens.

C. S. Lewis (1898-1963) war Literaturprofessor in Oxford. Weltbekannt wurde er als kreativer u nd scharfsinniger
Apologet des christlichen Glaubens und vor allem als Autor der Narnia-Chroniken.

Aus: Gott auf der Anklagebank, Fontis-Verlag, Basel 2018.

Bild:©George Pagan / unsplash
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