Hand aufs Herz

Nichts als die Wahrheit – Werte und Wunschvorstellungen

Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist Wahrheit definiert als das, „was der Wirklichkeit gemäß ist, der wirkliche Sachverhalt, die richtige Auffassung der Dinge“. Demnach ist Wahrheit eine Eigenschaft der Wirklichkeit und umgekehrt zeigt sich die Wirklichkeit im Wahren. Dieses Wahrheitsverständnis löst sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

Unter dem Einfluss ideologischer Strömungen darf es in unserer postmodernen Gesellschaft keine absoluten Wahrheiten und unumstößlichen ethischen Werte mehr geben. Nichts mehr wird als letztgültig anerkannt. Was für den einen verbindlich ist, erscheint einem anderen bedeutungslos. Wo alles relativ ist, ist jede Position mit einem Wahrheitsanspruch unerwünscht und man muss mit Ärger rechnen, wenn man eine Anschauung oder einen Lebensstil hinterfragt. Bestenfalls enden Gespräche schnell mit: „Das ist halt deine Wahrheit, meine Wahrheit sieht anders aus.“

Verbindliche Werte und Normen werden durch subjektive Wunschvorstellungen ersetzt und letztlich muss jeder selbst wissen oder herausfinden, was gut für ihn ist. Kein Wunder, dass Menschen mit anderen Überzeugungen, eilfertig als „selbsternannt, erzkonservativ, fundamentalistisch, rechtsradikal, homophob, etc.“ abgestempelt und mundtot gemacht werden.

Kalte Offensive

Die kalte Offensive einer neuen Weltanschauung stellt unseren christlichen Glauben vor schwere Entscheidungen und Herausforderungen. Wie können wir die Botschaft von der Liebe Gottes zum Menschen und seine Berufung zur Liebe noch zu Gehör bringen, wenn keine Bereitschaft mehr da ist, zuzuhören und sich die Mühe zu machen, die Wahrheit durch ehrlichen Dialog herauszufinden? Eine Kultur, die ihren Fokus auf das Subjektive, Geschichtliche, Zufällige richtet und betont, dass es unmöglich ist, ewige Wahrheit zu erkennen, unterliegt aus Sicht des christlichen Glaubens einer Täuschung. Das Wort Gottes mahnt uns:

Folgt also weiter der Wahrheit (vgl. Gal 5,7) und lasst euch nicht vom Teufel verblenden oder behindern (vgl. Gal 3,1)!

Ein Relativismus, der als letztes Maß nur das eigene Ich und dessen Wünsche anerkennt, wo Fakten keine Gültigkeit mehr haben, widersetzt sich mit allen Mitteln einer auf der Wahrheit gründenden christlichen Weltsicht. Aber die weltliche Gesellschaft bedarf dringend dieser Wahrheit, weil sie die einzige Antwort ist für die Menschen, die wie Schafe ohne Hirten sind, die nicht mehr wissen, was recht und was unrecht ist, was einer tun und lassen darf, was geht und was dem Menschen unmöglich ist.

Heilige Offensive

Es ist nötig, wieder Räume zu schaffen, in denen Menschen der Wahrheit begegnen können. Dies erfordert die Art des Nachdenkens und Betens, die als Unterscheidung der Geister bekannt ist. Zu unterscheiden bedeutet, auf den Heiligen Geist zu hören und im Gebet Gottes Motive und seinen Willen zu erkennen. Die Wahrheit existiert außerhalb von uns, jenseits unseres Selbst. Diese Wahrheit lockt uns durch ihre Schönheit und Güte an wie ein freundliches Licht und unterscheidet sich deutlich von der Erkenntnislehre der Post-Wahrheit, die verlangt, dass wir uns für eine Seite entscheiden, statt Gespräche zu führen und auf Beweise zu hören. Es gibt ein Prinzip, das man in diesen Zeiten nicht vergessen sollte: „Ideen werden diskutiert, aber die Wirklichkeit wird unterschieden.“ 1

Langsam scheint es sich wieder herumzusprechen, dass die säkularisierte Welt ohne Traditionen, Riten und Spiritualität nicht überleben kann. Eine entchristlichte Gesellschaft halten inzwischen auch Leute für barbarisch, die der Kirche fernstehen. Wenn kein Individuum sich dem anderen durch den gemeinsamen Schöpfer verbunden wisse, erklären liberale Philosophen, wenn niemand mehr daran glaube, davon rede und danach handle, was die Bergpredigt Jesu als Maxime vorgegeben hat, und wenn niemand mehr davon ausgehe, dass jedem Menschen das Heil fest zugesagt ist, dann trocknet die humane Gesellschaft aus zu einer Wüste des gnadenlosen Lust-, Erfolgs- und Nützlichkeitsdenkens. Nur ein Beispiel: Ist es denn wirklich ausgeschlossen, dass der Sterbehilfe für einzelne leidende Menschen nicht bald schon die massenhafte Euthanasie folgt, weil Leben aus unterschiedlichsten Gründen für wertlos oder problematisch erachtet wird? Mit Millionen von Embryos jedes Jahr wird dies längst praktiziert. Wenn es keinen Gott gibt, wenn der Mensch autonom ist, wenn es nach dem irdischen Leben weder Gericht noch Zukunft gibt, dann ist es nur logisch, wenn wir mit dem bisschen Leben, das wir haben – dem eigenen oder dem anderer – Schluss machen, wann es uns richtig erscheint.

Schöpferische Minderheiten

Moralische Grundlagen sind für die Existenz einer Gesellschaft unverzichtbar. In seinem Buch von 1992, Die Linke nach dem Sozialismus, besann sich Joschka Fischer: „Eine Ethik, die sich nicht auf die normative Kraft einer verbindlichen Religion stützen kann, wird es schwer haben, von Dauer zu sein.“ Glaube ist kein Abtauchen ins rein Private. Er hat etwas mit Kultur zu tun, mit Verantwortung für das Ganze. Das Schicksal einer Gesellschaft hängt immer wieder von schöpferischen Minderheiten ab.2 Christen, die sich als „Diener der Wahrheit“ verstehen, sehen sich verpflichtet, Menschen auf der Suche nach der Wahrheit zu helfen. Sie können nicht mitanschauen, dass ein Mensch in seinem Ego gefangen bleibt. Ohne Wahrheit bleibt er sich selbst fremd, abgeschnitten vom Grund seines Seins. Allein die Konfrontation mit der Wirklichkeit führt Menschen zur Wahrheit, während sich die Idee oftmals als hochmütig und selbstgefällig darstellt. Im Evangelium hören wir von Jesus: Da sagte er zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren:

Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien (Joh 8,31-32).

Also sind „das beste Mittel gegen die Falschheit nicht Strategien, sondern Personen: Personen, die frei von Begierde sind und daher die Bereitschaft haben, zuzuhören und die die Wahrheit durch einen ehrlichen Dialog zutage treten lassen. Personen, die – vom Guten angezogen – bereit sind, die Sprache gewissenhaft zu gebrauchen“. Wenn es um die Wahrheit geht, gibt es auch das andere: man stößt auf Widerspruch und gerät in eine schmerzliche Auseinandersetzung, die uns etwas kostet. Damit müssen wir in Zukunft mehr denn je rechnen. Jesus sagt an einer Stelle:

Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

In dem Film „Braveheart“ bereitet sich der schottische Anführer William Wallace auf einen Kampf auf Leben und Tod vor. Als er die Angst in den Augen seiner Soldaten sieht, ruft er: „Söhne Schottlands … ihr seid hierhergekommen, um als freie Männer zu kämpfen, und ihr seid freie Männer! Was werdet ihr ohne Freiheit tun? Wenn ihr kämpft, könnt ihr sterben. Jeder von euch wird eines Tages sterben! Wenn ihr weglauft, werdet ihr vielleicht ein bisschen länger leben. Aber ist ein Leben in Angst überhaupt ein Leben? Oder wollt ihr euren Feinden sagen, dass sie euch vielleicht das Leben nehmen können, aber niemals eure Freiheit!”

Keine Menschenfurcht

Etwas kann unsere besten Vorsätze, Gott zu lieben, zunichtemachen: die Menschenfurcht. Was werden die anderen von mir denken? Von dieser Frage in Beschlag genommen, ist man schnell dabei, vorsichtig, zweideutig oder gar falsch zu reden. Aber wo es um Gott und die Wahrheit geht, besteht nur das Echte. Keine Rücksicht auf private Sicherheit darf uns zu unechten Menschen machen. Keine Aussichtslosigkeit und keine Erfolg­losigkeit entbindet uns davon, zu sagen, was wahr und was falsch ist, und einzutreten für das, was recht und richtig ist. Wer vom Erfolg her denkt, für den heißt Echtheit nicht mehr die Begegnung mit dem Wirklichen, sondern Abhängigkeit vom Beifall. Aber Menschenfurcht kann aus der Hingabe an Gott überwunden werden; es liegt in unserem freien Willen, ob wir uns ihr überlassen oder nicht. Wenn wir konsequent dagegen angehen, werden wir diese Abhängigkeit allmählich überwinden.

Es muss uns nicht irritieren, dass es viele Philosophien, Weltanschauungen und Religionen gibt. Diesen Tatbestand intendiert das Gleichnis vom Kaufmann und der Perle – es ist ein offener Markt und jeder bietet seine Perle feil, seine Überzeugung. Das Problem ist nicht das vielfältige Angebot, sondern die ehrliche Wahrheitssuche. Wir müssen Echtes und Falsches voneinander unterscheiden lernen, denn das Irrige gibt es überall. Der menschliche Geist ist auf Wahrheit aus und möchte nicht getäuscht werden; nicht gegängelt oder verführt. Die Wahrheit allein macht ihn frei und gibt ihm dieses Gefühl der Freiheit und die Befriedigung in der Übereinstimmung mit sich selbst und letztlich auch mit Gott. Er muss auf dem Markt der Kulturen und Religionen nach der Wahrheit suchen und, auf sein Gewissen hörend, seine eigenen Überzeugungen bilden. Wie dieses Gewissen reagiert, das vom göttlichen Licht erleuchtet wird, hängt von der Ehrlichkeit des Suchens ab.

Freundschaft mit Christus

Wenn wir uns gegen den Relativismus wehren wollen, müssen wir darauf achten, wie wir sprechen, besonders wenn es um moralische oder religiöse Fragen geht. Wenn du etwa sagst „Ich glaube, dass Christus Gott ist“ oder „Ich glaube, dass Abtreibung falsch ist“, bedeutet das für den Relativisten: „Christus ist Gott für dich, aber nicht unbedingt für mich“ und „Abtreibung ist falsch für dich, aber nicht unbedingt für mich“. Also müssen wir aufhören, unsere Sätze mit „Ich glaube“ oder „Ich denke“ zu beginnen. Wenn dich jemand fragt, warum du Christ bist, dann sag: „Weil Christus Gott ist.“ Wenn dich jemand fragt, warum du gegen Abtreibung bist, dann sag: „Weil Abtreibung falsch ist.“ Ein reifer Glaube weicht nicht zurück vor den Wellen geistlicher Angriffe gegen die Kirche, gegen den Glauben an die Wahrheit, an das Gute und an die Schönheit. Wir brauchen einen Glauben, der sich nicht dem wechselnden Zeitgeist beugt und nicht verzweifelt, wenn die Dunkelheit zunimmt. Reifer Glaube ist tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt. Diese Freundschaft macht uns offen für alles, was gut ist, und lehrt uns, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein, ein Spiel der Wellen, geschaukelt und getrieben von jedem Widerstreit der Lehrmeinungen, im Würfelspiel der Menschen, in Verschlagenheit, die in die Irre führt. Wir aber wollen, von der Liebe geleitet, die Wahrheit bezeugen und in allem auf ihn hinwachsen (Eph 4,14-15). Der Apostel Paulus bietet uns als grundlegende Formel der christlichen Existenz:

Die Wahrheit tun in der Liebe!

In Christus decken sich Wahrheit und Liebe. In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, finden sich auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind; die Wahrheit ohne Liebe wäre wie eine lärmende Pauke (1 Kor 13,1 EÜ).

Wenn wir Christen in der Gesellschaft als Zeugen von echter Liebe leben, dann schafft das Raum, und zwar nicht nur für uns, sondern für alle. Der evangelische Theologe Martin Niemöller erlebte den Nationalsozialismus und hat es ganz selbstkritisch auf den Punkt gebracht: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Christus beruft uns, „aus der Wahrheit zu sein“ und „in der Wahrheit“ zu leben. Der Status des Zeugen, d. h. dessen, der Zeugnis ablegt für die Wahrheit, kennzeichnet die grundlegende Stellung des Christen und seine Aufgabe, sie den Menschen unserer Zeit entschieden und klar zu bezeugen.

So soll ­euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt 5, 16).

 

Anmerkungen:
1  Papst Franziskus in „Wage zu träumen“
2 Arnold J. Toynbee (* 1889 † 22. Oktober), Geschichtsphilosoph
3 Papst Franziskus, 13. Mai 2018
Bild:©***jojo / photocase.de
Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2022: Wahrheit wagen
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