Klares Wasser wird aus einer Flasche geschüttet

Klare Worte – Predigt zu Hebräer 4,12-13

Jörg Janköster

Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, sondern wir müssen uns nach der Wahrheit richten. 1

Nach diesem Leitspruch lebte der englische Gelehrte und Politiker Thomas More. Er hatte klare Überzeugungen und von diesen ließ er sich weder durch Wohltaten noch durch Zwang abbringen. Er war für seine Unbestechlichkeit bekannt. Unter dem englischen König Heinrich VIII. stieg er 1529 bis zum Lordkanzler auf, zum zweiten Mann im Staate. Doch schon kurz darauf kam es zum Bruch – wegen einer der zahlreichen Frauengeschichten, für die Heinrich VIII. bis heute bekannt ist. Der König wollte sich von seiner ersten Ehefrau Katharina von Aragon scheiden lassen, um seine Geliebte Anne Boleyn heiraten zu können. Für die Scheidung brauchte er aber das Einverständnis des Papstes. Als er das nicht bekam, trennte er kurzerhand die englische Kirche von Rom und erklärte sich selbst zum Oberhaupt. Dadurch konnte er seine Ehe selbst annullieren und der Weg für seine Geliebte war frei. Thomas More missbilligte dieses Vorgehen und trat als Lordkanzler zurück.

So wie Thomas More sich nicht von der Macht korrumpieren ließ, so ähnlich (natürlich noch in einer ganz anderen Qualität) hat auch Gott klare Maßstäbe. Er ist unbestechlich, seine Worte sind wahr und sie haben Macht. ER lässt sich nicht davon beeindrucken, was wir nach außen darstellen, sondern das Dichten und Trachten unseres Herzens ist vor ihm offenbar.

Voll Respekt

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen (Hebr 4,12-13).

Ich weiß nicht, wie es Euch mit diesen Worten geht. Mir flößen sie (nicht nur, aber vor allem) Respekt und Angst ein. Gott ist an dieser Stelle alles andere als lieb und nett. Seine Liebe oder Gnade wird mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: Hier redet Gott knallhart Klartext. Sein Wort deckt schonungslos auf, was auch in unserem Leben absolut gar nicht in Ordnung ist.

Im Schatten

Ja, Gott liebt uns, jeden einzelnen Menschen, mit einer Liebe, die jedes Verstehen übersteigt. Aber er ist eben auch allmächtig und heilig: Er ist vollkommen gerecht, deshalb kann vor ihm keine Ungerechtigkeit bestehen. Er ist vollkommen Licht, deshalb muss vor ihm fliehen, was im Schatten lebt. Deshalb gilt: Er liebt uns, aber seine Liebe ist von der Gestalt, dass sie uns nach und nach die Wahrheit über unser Leben aufdeckt. Er sagt nicht wie ein guter Kumpel zu uns: „Jo, passt schon, alles halb so wild, vergessen wir‘s!“ Nein, sondern Er benennt Unrecht als Unrecht, Schuld als Schuld und Verletzungen als Verletzungen. Das kann sehr weh tun. Aber nur auf diese Weise kann Er uns seine Liebe zeigen, nur auf diese Weise kann in unserem Leben etwas heil werden.

Wir leben in einer Zeit (und davon sind wir auch in der Kirche geprägt), in der wir immer mehr eine klare Sprache vermeiden. Wir wollen niemandem weh tun. Deshalb wählen wir schwammige Worte, an denen niemand mehr Anstoß nehmen kann. In der evangelischen Kirche und unter den Pastorinnen und Pastoren zum Beispiel gibt es Überzeugungen, die sich eigentlich diametral gegenüberstehen. Aber anstatt diese Differenzen offen zu benennen, wird oft gesagt: „Wir verkündigen doch alle das Evangelium!“ Wobei jeder den Begriff Evangelium mit eigenen Inhalten füllen kann, so wie er oder sie möchte. Oder ein anderes Beispiel aus der Schule. Im Zeugnis darf nicht mehr stehen „die Versetzung ist gefährdet“. Sondern es muss heißen: „Schüler XY muss noch fleißig lernen, um die Ziele der Klassenstufe zu erreichen.“ Aber ist es wirklich sinnvoll, unsere Sprache so sehr in Watte zu packen, nur damit sich niemand mehr angegriffen fühlt?

Für Fairness

Ich denke, wir müssen wieder lernen, offen und gleichzeitig respektvoll miteinander umzugehen. Klare Worte müssen nicht automatisch verletzend sein. Können Kritik und Wertschätzung, Liebe und Wahrheit nicht auch miteinander verbunden sein? Menschen können total unterschiedliche Überzeugungen haben und sich trotzdem gegenseitig als wertvolle Menschen anerkennen. Ist es möglich zu sagen: Das, was du denkst oder tust, halte ich für falsch. Aber ich respektiere dich als Mensch und als Gegenüber? Natürlich: Kein Mensch kann für sich in Anspruch nehmen, die alleinige Wahrheit zu haben. Unsere menschliche Perspektive ist immer begrenzt. Aber sollten wir nicht gemeinsam um die Wahrheit ringen?

In unserer regionalen Zeitung wurde über ein lesbisches Paar berichtet, das ein Kind erwartet und sich deshalb für einen Platz bei einer privat geführten Kindertagesstätte anmelden wollte. Das Betreiberehepaar hat ihnen in keiner Weise einen Betreuungsplatz abgesprochen, im Gegenteil. Und trotzdem wollte es von vornherein klarstellen, um eventuelle spätere Missverständnisse zu vermeiden, dass es eine andere Überzeugung hat, was das Zusammenleben von Mann und Frau angeht. Durch diese Reaktion hat sich das lesbische Paar ausgegrenzt und diskriminiert gefühlt. – Ich möchte an dieser Stelle weder über die Sachfrage reden noch darüber, ob und wer von beiden Parteien in diesem konkreten Konflikt Recht hat. Aber sollte es nicht möglich sein, in der Frage, wie Familie aussehen soll, unterschiedliche Überzeugungen zu haben? Ist es deshalb schon eine Diskriminierung, wenn das Betreiberehepaar auf ihre Überzeugung hinweist? Oder ist das nicht vielmehr ein Gebot der Fairness, so wie es das Betreiberehepaar eigentlich beabsichtigt hatte?

Kritik und Wertschätzung, Liebe und Wahrheit können miteinander verbunden sein. Ich bin im Nachhinein sehr dankbar für meinen Mentor im Vikariat, also meinen Ausbildungspastor. Er hat manchmal heftige Kritik geübt, wenn ich irgend­etwas nicht gut gemacht hatte. Aber gleichzeitig hat er mir immer vermittelt, dass er mich als Person wertschätzt und viele Fähigkeiten in mir sieht. Ich bin überzeugt: Solche Menschen brauchen wir in unserem Land mehr denn je.

Ein Gerechter

„Ein Mann für jede Jahreszeit“, so heißt der Film aus dem Jahr 1966, der das Leben und Schicksal von Thomas More auf die Leinwand gebracht hat. In dem Film wird herausgearbeitet, wie Heinrich VIII. um die Zustimmung von Thomas More zu seinem Vorgehen ringt. Der König weiß, dass viele der anderen Menschen, die ihn beraten, ihm einfach nach dem Mund reden. Gerade deshalb schätzt er Mores unbestechliche Meinung. Das ist der Grund, warum er More mit allen Mitteln auf seine Seite zu ziehen versucht: mit Wohltaten, mit Verleumdungen und am Ende mit Zwang. Als Thomas More sich schließlich weigerte, einen per Gesetz vorgeschriebenen Eid gegen seine Überzeugung abzulegen, wurde er hingerichtet. Der Film, der mit sechs Oskars prämiert wurde, ist sehr sehenswert – wenn man sich auf die Sehgewohnheiten der 60er Jahre einlässt. Auch wenn ich nicht alle Überzeugungen von Thomas More teile (er war überzeugter Gegner der Refor­mation), finde ich es beeindruckend, wie er nach diesem Leitspruch gehandelt hat: „Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, sondern wir müssen uns nach der Wahrheit richten.“ Amen.

Jörg Janköster ist Pastor in Friedeburg/Niedersachsen. Während seines Theologiestudiums hat er im Haus der Hoffnung in Greifswald mitgelebt. Weitere Impulse aus seiner Arbeit:
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Anmerkung:
1 Das Zitat stammt eigentlich von Matthias Claudius (1740-1815). Thomas More kannte diese Worte also noch nicht. Trotzdem ist dieses Zitat eine zutreffende Beschreibung seiner Überzeugungen.

Bild:©pix4u / Adobe
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