In der Armut eines banalen Lebens – Eine hinreißende Beziehungsgeschichte mit Gott

Gotthard Fuchs –

Der Christ der Zukunft wird ein Konvertit und ein Pilger sein – oder er wird nicht mehr sein“, ­jemand also, der sich bewusst entschieden hat und spirituell beweglich bleibt. Was dieser Satz aus der französischen Religionssoziologie aktuell bedeuten kann, lässt sich an Leben und Werk von Madeleine Delbrêl entfalten. Vor über fünfzig Jahren, am 13. Oktober, gerade einmal 60 Jahre alt, ist die französische Sozialarbeiterin und Mystikerin gestorben. Bei ihrer Beerdigung sagte der kommunistische Bürgermeister von Ivry: „Ich glaube auch jetzt nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine.“

Mit ihrer Konversion, ihrer Rückkehr zum Christentum, fing alles an. Zwar in einer milieukatholischen Familie groß geworden, aber ohne jede wirkliche Prägung, verstand sich Madeleine in ihrer Jugend als entschiedene Atheistin: „Gott ist tot! Es lebe der Tod!“ war damals das durchaus nihilistische Motto der hochbegabten Studentin an der Pariser Sorbonne. Wenn sie später immer wieder betont, den christlichen Glauben könne nur jemand begreifen, der die Sinnlosigkeit der Welt und des Daseins zu spüren bekommen hat, spricht sie aus dieser Erfahrung. Zwanzigjährig kommt es nach längerem Suchen und aufgrund der Begegnungen in der Pfadfinderschaft zur Lebenswende. Madeleine Delbrêl schreibt im Rückblick: „Wenn ich aufrichtig sein wollte, dürfte Gott, der nicht sehr strikt unmöglich war, auch sicher nicht als inexistent behandelt werden. Ich wählte deshalb, was mir am besten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten … Dann habe ich, betend und nachdenkend, Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich fand und dass er lebendige Wirklichkeit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt.“

Absichtslos präsent

Nach ihrem Tod fand man einen Zettel in ihrem Gebetbuch, darauf – wie bei Blaise Pascal (1623-1662) – exakt notiert das Datum der Bekehrung, der 29. März 1924. Wie ein Navi fürs weitere ­Leben stehen auf diesem Merkzettel folgende Sätze: „Ich will das, was du willst, ohne mich zu fragen, ob ich es kann. Ohne mich zu fragen, ob ich Lust darauf habe. Ohne mich zu fragen, ob ich es will.“ Zeitlebens hat Madeleine Delbrêl diesen Gottesfund als ein umwerfendes Glück erfahren und beschrieben. Der Glaube ist zwar für sie auch ein „dunkles Licht“, aber vor allem ein überschwängliches Glück: jedenfalls keine Idee, schon gar nicht eine bloß moralische Doktrin, vielmehr eine hinreißende Beziehungsgeschichte, eine abenteuerliche Entdeckungsreise. Noch in ihrem letzten Vortrag kurz vor ihrem Tod sagt sie: „Ich bin von Gott überwältigt worden und bin es immer noch.“

„Der Christ der Zukunft wird ein Konvertit sein“, oder – so der Theologe Karl Rahner (1904-1984) – ein Mystiker, der etwas erfahren und sich entschieden hat. Aber damit beginnt der Aufbruch erst, die Pilgerschaft. Längere Zeit überlegt Madeleine Delbrêl, ob sie in den Karmel eintreten soll. Aber bewusst entscheidet sie sich für die Pflege des kranken Vaters und dann für das Studium der Sozialarbeit. Nach dessen Abschluss will sie in die Mission gehen – aber bezeichnenderweise nicht nach Afrika oder Asien, sondern in die Slums und Vorstädte von Paris. Mit zwei Gefährtinnen geht sie nach Ivry, eine Hochburg des militanten Marxismus damals und ein Idealort kommunistischen Lebens. Dort im anti- und nachchristlichen proletarischen Milieu nistet sie sich ein, völlig absichtslos und nichts im Sinn, als die gefundene Gottespräsenz zu bezeugen. Zunächst nehmen die drei Frauen Wohnung im Pfarrhaus einer der drei katholischen Pfarreien. Doch schon bald merken sie, dass sie sich damit nur isolieren. Zu abgeschottet ist dieses Getto bürgerlicher Christlichkeit, zu fern dem normalen Leben der Leute. Ein kleines Reihenhäuschen muss her, das bald zu ­einer Art Haus der offenen Tür für Notleidende wird. Hier leben die Frauen im täglichen Rhythmus von Anbetung und Gastfreundschaft.

Die kleine Gemeinschaft „Charité de Jésus“ wächst auf schließlich dreißig Frauen an, eine Tochtergründung entsteht in Afrika. Seite an ­Seite mit marxistischen Gewerkschaftlern gerät Madeleine Delbrêl immer mehr in die konkrete Sozialarbeit vor Ort – und als die Kommunisten vor den anrollenden Nazis fliehen müssen, übertragen sie ihr, der entschiedenen Christin, treuhänderisch doch das Sozialdezernat der Vorstadt. Madeleines Initiative und Persönlichkeit werden immer bekannter. Sie wird als Referentin in das Seminar der „Mission de France“, der Arbeiterpriester, eingeladen. Schließlich besteht ihre Hauptarbeit in Vorträgen und Stellungnahmen, auch noch für die Vorbereitung des Vatikanischen Konzils.

Nichts anderes haben die Frauen im Sinn, als hier und jetzt so zu leben wie Christus. „Christi Worte, seine Gebärden, seine Ratschläge zum heutigen Zeitpunkt in der Kirche leben. Und dies ganz schlicht, ein wenig buchstäblich, wie Leute, die das Evangelium zum ersten Mal hören. Wie Kinder, die Vertrauen haben und keine Erklärungen verlangen; wie Unwissende, die keine Einwände haben; wie Liebende, die den geringsten Wünschen des Geliebten nachkommen möchten.“ Ausdrücklich verstehen die Frauen sich nicht als neue geistliche Gemeinschaft. Vielmehr wollen sie, dem Wanderprediger aus Nazaret entsprechend, Landstreicher des lieben Gottes sein, „um den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi zu wiederholen … Gebärden von Leuten, die ihre Begegnungen nicht selber aussuchen, ihren Weg zu diesem oder jenem nicht selber wählen, sondern annehmen, was Gott ihnen schickt: was und wen.“ In diesem Geist gibt es heute Straßenexerzitien: eine geist­liche Übung, um wenigstens einige Tage lang ­ohne Geld und Plan mitten im Alltag und auf der Straße zu entdecken, was geschieht, wenn man sich sozusagen wehrlos und nur das Evangelium im Gepäck auf die Überraschungen einlässt, mit denen Gott hier und jetzt begegnen will.

Überraschungslust

Wenn Madeleine Delbrêl vom Evangelium spricht, meint sie natürlich die grundlegenden Überlieferungen Jesu – aber nicht nur als geschriebenen Text, als Buch oder gar als Doktrin. Das, was Evangelium meint, ergibt sich erst dort, wo sich die Texte mitten im Alltag erschließen beziehungsweise zuallererst zum sprechenden Kon-Text werden. Die heiligen Schriften wollen ja in dem Geist gelesen und gelebt werden, in dem sie geschrieben sind. Mindestens so wie aus der schriftlichen Überlieferung kommt das Geheimnis, das wir Gott nennen, in den Ereignissen des Tages zum Vorschein – immer wieder über­raschend neu, erfreulich irritierend und heilsam verändernd. Selbstkritisch im Blick auf die verbürgerlichte, nur mit sich beschäftigte Gewohnheitskirche notiert Madeleine deshalb: „Wir verkünden keine gute Nachricht, weil das Evangelium keine Neuigkeit mehr für uns ist, wir sind daran gewöhnt, es ist für uns eine alte Neuigkeit geworden. Der lebendige Gott ist kein ungeheures, umwerfendes Glück mehr … Wir verteidigen Gott wie unser Eigentum, wir verkünden ihn nicht wie das Leben allen Lebens, wie den unmittelbaren Nächsten all dessen, was lebt.“

Entsprechend wird das Zusammenleben mit Atheisten und Marxisten zur ständigen Herausforderung, selbst das Evangelium neu zu ent­decken und konsequent zu verwirklichen. Evangelisierung richtet sich nicht zuerst an die Anderen „draußen“, sondern an die eigene Adresse – im Sinne ständiger Umkehr und Reformation. Man findet bei Madeleine Delbrêl keinerlei Gejammer über die vermeintlich gottlosen Zeiten und die vielen Mitmenschen, die nicht glauben wollen oder können. Ganz im Gegenteil: Die von Christus ergriffene Sozialarbeiterin sieht Gott hier und jetzt am Werk – und erweist sich mit solch einer Haltung durchaus als Vordenkerin des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Lehre von den Zeichen der Zeit.

Dass sich so viele Menschen – wie sie selbst als junge Frau – mit Fragen nach dem Lebenssinn herumschlagen, ist ihr ein Hoffnungszeichen. Denn gerade so wird die erlösende Wucht des Evangeliums sichtbar. „Man muss sich der beiden dunklen Räume bewusst geworden sein, zwischen denen unser Leben sich abspielt: Unergründliches Dunkel Gottes und Finsternis des Menschen. Dann kann man sich mit Leib und Seele dem Evangelium verschreiben, kann durch all unser doppeltes Nichts hindurch unsere Kreatürlichkeit und unser Sündersein wahrnehmen.“ Also das ­Todesmilieu, die ständige Vergänglichkeit, die Madeleine Delbrêl illusionslos beschreibt: „Die Verwüstungen durch die Zeit, die allgemeine Gebrechlichkeit, die Todesfälle, den allmählichen Verfall der Zeit, aller Worte, der sozialen Gemeinschaft, unserer selbst. Und am anderen Pol muss man die undurchdringbare Welt des In-sich-Seins-Gottes angerührt haben, um in sich ein solches Grauen vor der Finsternis zu entdecken, dass das Licht des Evangeliums uns notwendiger wird als Brot.“

Schonungslos unterstreicht sie inmitten der Schönheit des Weltlichen auch das Ausmaß der Vergeblichkeit, die Idiotien des Scheiterns, die Dramen der Gewalt. Warum das Elend der Massen? Warum Gewalt und Unrecht? Warum so viel tragisches Misslingen in den Lebensläufen? Aber auch: Woher das Gute? Erst angesichts solcher Sinnfragen zeigt sich die Kraft des Evangeliums als leidenschaftliche Zustimmung zum Hier und Jetzt, als ständiges Gespräch mit dem Gott des Evangeliums, der uns in allen Dingen anspricht –im Unglück wie in der Schönheit, würde Made­leine Delbrêls Schwester, die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) sagen.

Elliptische Spannung

„Lernen wir, dass es nur eine einzige Liebe gibt: Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt; wer in seinem Herzen das Gewicht Gottes aufnimmt, empfängt auch das Gewicht der Welt.“ Diese elliptische Spannung macht lebendiges Christsein aus. Aus der Hinwendung zu Gott ­allein (solitaire) ergibt sich die unerschöpflich kreative Verbundenheit mit den Mitmenschen (solidaire) – und umgekehrt. Im Rhythmus von Anbetung und Nächstenliebe, von Gottesliebe und Weltverantwortung wird der Glaube konkret – nicht im „frommen“ Irgendwo nach dem Geschmack privater Spiritualität, sondern in konkreten Herausforderungen und Widerständen des Alltags. So nur bewährt sich und entsteht je neu das, was Kirche heißt: Sie ist dort, wo Christus ist – ein ständig überraschender und auch schmerzhafter Geburtsvorgang, wie es Madeleine Delbrêl besonders am Streit um die Arbeiterpriester durchleidet, durchkämpft und ins Gebet nimmt. „Wir kommen nicht, um großmütig etwas mitzuteilen, was uns gehört, nämlich Gott. Wir treten nicht wie Gerechte unter die Sünder, wie Leute, die ein Diplom erlangt haben, unter Ungebildete. Wir kommen, um von einem gemeinsamen Vater zu reden, den die einen kennen, die anderen nicht, wie solche, denen vergeben worden ist, nicht wie Unschuldige, wie solche, die das Glück hatten, zum Glauben gerufen zu werden, ihn zu empfangen, aber nicht als Eigenbesitz, sondern als etwas, das in uns für die Welt hinterlegt wird: daraus ­ergibt sich eine ganze Lebenshaltung.“

 

Madeleine Delbrêls Spiritualität ist realistisch und alltagstauglich. Die Warteschlange am Bus oder an der Kasse wird ihr zum Anlass für ein Stoß­gebet, jede Störung im Tagesverlauf zur Übung schöpferischer Flexibilität. Das Zentralwort Liebe hat in ihren Texten und Taten eine ganz handfeste und zupackende Bedeutung – nicht ohne Humor und jene schwere Leichtigkeit des Seins, die aus tragendem Vertrauen kommt. In Delbrêls Sozialpastoral kommt das zum Vorschein, was ­Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., einmal „die Abenteuerstruktur des Glaubens“ nannte. „Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ­ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.“

Gotthard Fuchs, Dr. phil., Priester des Erzbistums Paderborn, seelsorgerlich und publizistisch tätig in der Vermittlung von Theologie und Spiritualität.
Aus der Wochenzeitschrift CHRIST IN DER GEGENWART (Nr. 41/2014, Freiburg i. Br.).

Bild: Madeleine Delbrêl, französische Sozialarbeiterin und Mystikerin, lebte von 1904-1964.

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