Ich sehe rot (aus)

Mit 16 Jahren habe ich mich bewusst für ein ­Leben mit Jesus entschieden und bin seither auf dem Weg des Glaubens unterwegs. Tief traf mich die Erkenntnis, dass ich den Weg der Liebe aber noch nicht wirklich beschritten habe und das Wichtigste in meinem Leben fehlt.

Alles lief eigentlich sehr gut…

Äußerlich betrachtet habe ich einiges vorzuweisen: ein sehr gutes Abitur, ein abgeschlossenes Studium in einem anspruchsvollem Fach, eine traumhafte Arbeitsstelle, eine tolle Wohnung, ­viele Freunde und Bekannte. Ich habe einen sehr guten Ruf, bin hochgeschätzt und bekannt als die immer freundlich lächelnde, zuvorkommende Ansprechpartnerin und die perfekte Gastgeberin für all die Menschen, die mich in ihrem Urlaub besuchen und deren kulinarische Versorgung und Freizeitplanung ich nebenbei gern mit übernahm. Auch in der Gemeinde vor Ort brachte ich meine Begabungen ein.
Doch hinter der Fassade, wenn ich ehrlich war und niemand hinschaute, entglitten mir oft die ­lächelnden Gesichtszüge, eine tiefe Traurigkeit bestimmte mein Leben, das Gefühl von Einsamkeit machte sich breit und der Gott, an den ich glaubte, schien weit entfernt. Irgendwann konnte ich kaum noch Freude empfinden, alle Tätigkeiten wurden mühsam, jeder Kontakt mit Menschen war nur noch anstrengend. So brach ich ­alle Zelte ab, kündigte Arbeitsstelle und Wohnung, verabschiedete mich und trat den Rückzug an. Gott hatte mir eine Jahreslosung geschenkt: Geh hin, mein Volk, tritt ein in dein Zimmer und schließ deine Tür hinter dir zu! Verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis die Verwünschung vorübergeht (Jesaja 26,20) und ich fühlte mich ermutigt, ihn beim Wort zu nehmen. In einer kleinen Gemeinschaft fand ich Unterschlupf und einen Seelsorger, der sich viel Zeit für mich nimmt. In den Gesprächen durfte ich erkennen, dass eine verborgene, zur Haltung gewordene Scham einen Großteil meiner Kraft gekostet hat und zur Ursache einer tiefen Erschöpfung wurde.
Sie begleitet mich, so lange ich denken kann. Die Farbe der Scham zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Soweit ich mich erinnern kann, gab es kein bestimmtes auslösendes Ereignis für meine peinliche Färbung, sondern eine permanente Beschämung prägte mein Leben nachhaltig. Ich stellte mich diesem Thema erstmals im Rahmen eines Seelsorgegesprächs, als ich mitten in der tiefen Krise angekommen war und mir klar wurde, dass mein Leben so nicht weiterlaufen kann.
Obwohl ich seit vielen Jahren als Christ in einer lebendigen Beziehung zu Jesus zu leben glaubte, merkte ich, dass mir etwas Wesentliches fehlt. Ich schrieb in mein Tagebuch:
„Geliebt werden und mich lieben lassen ist nicht das, worin ich Erfahrung habe. Echte Liebe ist wie eine Fremdsprache für mich.“

Das reichte aber nicht

Ich habe mich auf den Weg gemacht, diese Fremdsprache zu lernen, aber erlebe mich noch ganz am Anfang des „Alphabetes der Liebe“. ­Bevor ich selbst lieben kann, muss ich mich lieben lassen können, und dazu brauche ich ein weit ­offenes Herz. Mein Herz war und ist sehr verschlossen, weil ich bisher echte Liebe kaum erlebt habe. Die Beschämung in meiner Kindheit und Jugendzeit hat mein Herz gegenüber der Liebe zunehmend verschlossen.
Meine Eltern wünschten sich eine Vorzeige­tochter, immer brav, immer lächelnd, mit besten Noten, dann war ich angenommen. Ihre Liebe war an Bedingungen geknüpft: „Du wirst schon geliebt, aber nur solange du unseren Erwartungen entsprichst.“ Wie oft hörte ich Sätze wie „dafür solltest du dich schämen, was sollen die Leute denken…“. So lernte ich zu vermeiden, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und hielt krampfhaft die Fassade einer heilen Familie aufrecht. Aber hinter den Kulissen herrschte tiefe Traurigkeit. Ich fühlte mich von Gott enttäuscht, meine wichtigsten Gebete wurden nicht erhört. Das alles führte zu einem tiefen Misstrauen Gott gegenüber: Liebt ER mich wirklich?
Auch in der Kirchengemeinde, in der ich aufwuchs, waren Äußerlichkeiten von größter Bedeutung. Angesehen war, wer ins Schema passte. Von Gottes Liebe wurde zwar geredet, aber ich spürte nichts davon. Dafür begleitete mich die ständige Angst, etwas falsch zu machen, den ­Anforderungen nicht zu genügen. Ich stand unter einem ungeheuren Leistungsdruck und vergrößerte stetig meine Anstrengungen, um nicht ­beschämt zu werden. Vermittelt wurde mir auch dort: „Du bist schon geliebt, aber nur, wenn du ­alle Vorschriften erfüllst, jeden Dienst übernimmst, dich anpasst…“ Und ich spielte mit.

Gebunden in Angst und Scham

Gott wurde mir als unbarmherziger Richter vorgestellt, als jemand, der nur meine Defizite anschaut, mich bloßstellt und beschämt. Ein Kinderlied klingt mir noch in den Ohren „Pass auf kleines Auge, was du siehst, denn der Vater in dem Himmel schaut herab auf dich…“ Ja, den strengen, verurteilenden Blick habe ich ständig auf mir gespürt. Das Sprichwort „wenn Blicke töten könnten…“ trifft es auf den Punkt – innerlich bin ich mehrfach gestorben.
Mich vor weiteren Beschämungen zu schützen, nahm einen großen Raum ein und kostete viel Kraft. Im Laufe meines Lebens habe ich Schutzmauern aufgebaut und mich in Vermeidungs­strategien geflüchtet, die bis heute für mich schier unüberwindliche Hindernisse für echte Liebe darstellen. Ich halte Menschen auf Abstand und lasse niemanden wirklich an mich heran. Von außen gesehen war ich die kompetente, nette Angestellte und einfühlsame Freundin mit dem großen Herzen und einem stets offenen Ohr. Innerlich sah es aber ganz anders aus. Mein hartes Herz war nicht mehr zugänglich für die Liebe und voller Abwehr. Meinem Empfinden nach fühlt es sich an wie Stacheldraht und so steht es auch in meinem Tagebuch:

Mit Stacheldraht umwickelt
winde ich mich vor Schmerzen,
ich blute, bin zerrissen, aufgerissen.
Ich rühre mich nicht mehr,
um nicht noch mehr Wunden
zugefügt zu bekommen.
Ich halte still, weil jeder Atemzug,
jede Anstrengung
neuen Schmerz bringt.

Wer mir zu nahe kommt,
spürt die Stacheln,
taumelt erschrocken zurück
und auch in mein Fleisch
bohren sie sich tiefer – die Stacheln der Abwehr.
Ich weine vor Schmerz.

Schritt für Schritt lerne ich um

In dieser Zeit habe ich Menschen kennengelernt, die mich ganz anders angeschaut haben: mit Liebe und Wertschätzung. Sie haben mir echte Fragen gestellt und sich für die Frau hinter der Fassade interessiert, mich angenommen, wie ich bin. Durch viele Gespräche mit einem zugewandten Gegenüber habe ich langsam begonnen zu begreifen und zu spüren, wie Gott wirklich ist: ER ist der, der mich in Liebe erdacht, aus Liebe gewollt und zur Liebe berufen hat. Schritt für Schritt lerne ich nun, dass es um eine wunderbare Liebes­beziehung zwischen Jesus und mir geht, dass ich unter dem Blick eines liebenden, wohlwollenden Gegenübers lebe. Ganz langsam fühle und spüre ich, was es bedeutet, wirklich geliebt zu werden – bedingungslos – und das gibt mir wieder Mut zu wagen, Gott mein Vertrauen und meine Liebe zu schenken und mit IHM weiter vorwärts zu gehen.

Bis heute erröte ich sehr schnell, wenn mich jemand anschaut. Im Gespräch mit Gott, über die Frage, welche Rolle die Scham in meinem Leben spielt, hat er mir Worte gegeben, die mir aus dem Herzen geflossen sind, als einen Psalm der Scham:

ErRötungen

Beschämt auf unzählige Art und Weise, erniedrigt,
gedemütigt, klein gehalten von Kindesbeinen an.
Du hast nichts zu sagen.
Du bist nicht liebenswert.
Du bist zu sensibel. Du fühlst falsch.
Du bist falsch.
Ich werde bestimmt – in Verlegenheit gebracht – ausgelacht – getadelt – übersehen –
nicht ernst genommen.
Aber auch ausgenutzt –
meine Begabungen, meine Fähigkeiten,
Lieblos behandelt bleibe ich zurück. Nützlich.

ICH werde nicht gesehen.
Ich werde hinterfragt und bloßgestellt.
Meine Unzulänglichkeiten stehen mir vor Augen. Ich verkrümme mich.
Ich verliere mein Gesicht.
Ich spüre Schamesröte in mir aufsteigen,
Ich vergehe – schäme mich meiner Scham,
regelmäßig – oft – immer.
Ich möchte mich in Luft auflösen,
im Erdboden versinken, ins Mauseloch kriechen,
den hochroten Kopf in den Sand stecken.
Ich will nur weg – fliehen.

Wohin? Niemand steht mir bei.
Trostlos bleibe ich zurück,
weil das Gesehen-Werden fehlt,
das Wohlwollen – die Wertschätzung –
die Wärme – echte Liebe.

Im unpassendsten Moment,
auch ohne offensichtlichen Auslöser steigt mir
die Röte wieder ins Gesicht, wird offenbar.
Mein Innerstes kehrt sich nach außen
und jeder kann in mir lesen wie in einem Buch.
Ich erkläre, das sei meine normale Gesichtsfarbe.
Ich kämpfe. – Ich strebe nach Perfektion.
Ich schauspielere. – Ich verdränge.
Ich verbanne alles ROT aus meinem Kleiderschrank.
Ich übertünche mit Schminke.
Ich verbiete, mich zu fotografieren.
Ich weiche aus.
Ich verhindere echte Begegnungen.
Ich verstumme. – Ich härte mich ab.
Doch nur mein Herz wird hart,
mein Gesicht versteinert – mein Körper schmerzt.
Meine nächste Farbe ist: Grau – genau so wird mein Leben: farblos, traurig, trostlos.
Ich bin am Ende – und schäme mich dafür.
Grauenvoll.

HERR, ich sehne mich nach Befreiung,
strecke die Hand aus dem Gefängnis der Scham, strecke mich aus nach DIR.
DU bist anders, als Du mir vorgestellt wurdest.
Du beschämst mich nicht.
Du würdigst mich nicht nur eines Blickes,
Du schaust mich voller Liebe an.
Aus diesem Blick will ich leben,
mich diesem Blick aussetzen,
den Blick der Liebe auf mir ruhen lassen –
und damit selbst zur Ruhe kommen.

In der Stille
will ich Deine Worte der Wertschätzung hören,
Dein Wohlwollen mir gegenüber spüren –
amor benevolentiae.
Du verurteilst mich nicht,
Du stellst mich nicht bloß.

DU willst Gutes für mich.
Du willst MICH – mitsamt ALLEN Farben
meines Lebens.
Du willst sie verwandeln-
die Farbe meines Schreckens in die Farbe der Liebe.
Du willst sie verwandeln-
die Via Dolorosa in eine Via Amorosa.
Ziehe mich hin zu Dir!
Ich halte Dir die ganze Leinwand meines Lebens
hin und bitte Dich als den Künstler sie vollständig
zu restaurieren, Altes, Graues, Dunkles zu
entfernen, die alten Farben auszutilgen,
etwas völlig Neues zu schaffen.
Verwandle mich!

Du stellst mir Menschen zur Seite,
die den Schmerz der Vergangenheit
und Gegenwart mit mir aushalten,
mich immer wieder DIR hinhalten.
Menschen, die Farbe bekennen.
Ich lese Wohlwollen in ihrem Blick
und spüre darin Deinen Blick auf mir ruhen.
Ich spüre Deine heilende Hand in meinem Leben,
in jeder menschlichen Hand auf meiner Schulter,
in jeder Umarmung,
in jeder Geste der Liebenswürdigkeit.

Ich gehe weiter – an Deiner Hand der Liebe
und gehalten von Deinen Boten der Hoffnung.
Ich bin hier in Sicherheit.
In Ehrfurcht danke ich Dir und erwidere Deinen zärtlichen Blick und Deine unendliche Liebe.
HERR, lehre mich zu lieben –
DICH, mich selbst und die Menschen.
Ich will mich von Dir lieben lassen,
bei Dir verweilen. Ziehe mich noch näher zu Dir!

Wenn ich meine Leinwand betrachte,
stelle ich fest, dass Du treu und stetig am Werk
bist, Du Kunstliebhaber und Kreateur.

Du hast das Bild schon vor Augen und im Herzen.
Für mich lüftest Du den Vorhang leicht und lässt mich das neue Gemälde schrittweise entdecken:
bunte Farbtupfer, neue Linienführungen,
glänzende Reflexe, überraschende Kontraste.
Unbekanntes liegt vor mir, doch ich sage Ja!

In aller Freiheit – vorbehaltlos – überlasse ich
täglich neu das noch unvollendete Kunstwerk
Deinen sanften, noch ungewohnten Pinselstrichen.
Ja, Du tust Wunder!
Ich trete heraus aus dem Schatten der Scham
und wage Vertrauen.

Ich erglühe
angesichts
Deiner unaussprechlichen Liebe.

Der Name der Autorin ist der Redaktion bekannt.
Bild: CC BY-NC-ND 2.0 Stefano Corso
Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2018: Mich überlassen oder mich überlasten
Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Auszeit – Betrachtung
Nächster Beitrag
Burnout – und wie wir die Kurve kriegen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv