Hindernde Fesseln – Wenn aus Bindung Abhängigkeit wird

Magnus Malm –

Im Leben eines jeden Christen gibt es Dinge, die ihn hindern, Christus von ganzem Herzen nachzufolgen. Ich lese die Bibel, ich nehme gute Unterweisung und verschiedenste geistliche Impulse auf, und meine Erwartungen steigen. Ich setzte mir Ziele für mein Leben und das der anderen, baue Visionen, erwarte, dass Gott helfen wird. Aber ­irgendwo sitzen unsichtbare Sperren in meinem Leben, die mich zurückhalten und behindern. Ich bitte Gott, mich zu gebrauchen, aber er schweigt.
Er schweigt? Antwortet er vielleicht nur deswegen nicht auf meine Fragen, weil er darauf wartet, dass ich seine beantworte? Wie wir Gottes Schweigen erleben, hängt ja oft mit unseren Erwartungen zusammen. Wir richten unseren Blick auf ein bestimmtes Ziel und erwarten, dass Gott sich dort offenbart. In Wirklichkeit ist er mir aber viel näher, als ich selbst das bin, und wartet geduldig darauf, mir hier zu zeigen, was meinen Zielen im Wege steht. „Dort ist das Problem“, sage ich zu Gott und zeige mit meinem Finger. „Nein, Kind, hier sitzt der Knoten“, sagt er und zeigt auf meinen wunden Punkt. „Aber ich will doch dich kennenlernen!“, wende ich ein. „Das sollst du auch“, sagt Gott. „Aber jetzt muss ich dir zuerst ein paar Dinge in deinem eigenen Leben zeigen.“
Es gibt viele solche wunden Punkte. Sie sind Hindernisse für meine Nachfolge und damit auch für die meisten Mitmenschen, und deshalb will Jesus mich gern von ihnen befreien.

Bindungen

Einen großen Bereich, der meine Christusnachfolge behindert, nennt man Bindungen. (Wenn hier von „Bindungen“ die Rede ist, meint der Autor ungute und belastende Abhängigkeiten. Red)
Es handelt sich hier nicht um Sünden, die man bekennen kann, auch nicht um Wunden, die heilen können, sondern um unsichtbare „Fäden“ zu Personen und Faktoren, die mich fesseln und daran hindern, das zu tun, was ich eigentlich will. Und wie bei den Sünden und Wunden, so können wir auch mit diesen unsichtbaren Bindungen jahrelang kämpfen, ohne von ihnen loszukommen.
Bei den Bindungen ist dieser Kampf vielleicht sogar am allerschwersten. Sie sind ja so unsichtbar und unbewusst, dass ich gar nicht merke, wie sie mich beeinflussen. Sie sind durch oft sehr ­komplexe Ursachen so eng mit meinem Leben verwachsen, dass ich sie gar nicht mehr als Fremdkörper empfinde. Sie gehören zu mir; es würde mir etwas fehlen, wenn ich sie nicht hätte.
Bindungen haben zwei Gesichter. Es ist ähnlich wie bei dem Verhältnis des mittelalterlichen Untertanen zu seinem Feudalherrn: einerseits ein Stück Schutz und Geborgenheit, andererseits ständige Knechtschaft. Es handelt sich nicht um eine freiwillige Zusammenarbeit, sondern um eine Gefangenschaft, aus der ich nicht ausbrechen kann. So ist Hassliebe oft typisch für eine Bindung: hemmungslose, unkritische Bewunderung und dann gleich wieder blind draufloshackende Kritik. Das Hin und Her zwischen diesen Polen kann heftig sein, was den springenden Punkt nur verstärkt: Ich sitze hoffnungslos fest. Verschiedene Seiten meiner Persönlichkeit werden in Mitleidenschaft gezogen: Mein Denken ist ein ständiges Kreisen und Wiederkäuen, das mich auf der Stelle treten lässt. Mein Wille wird auf ein paar hoffnungslos begrenzte Alternativen zurechtgestutzt, die keine eigentlichen Veränderungen zulassen. Meine Gefühle verengen sich auf einige ausgeleierte Muster zwischen Anhänglichkeit und ­aggressivem Aufbegehren. Die Erinnerung verdunkelt sich, sodass ich die Freiheit, die ich vielleicht vor meiner Bindung hatte, nicht mehr sehen kann.

Eltern

Wohl die häufigste und fundamentalste aller Bindungen. Anstatt ihre Kinder loszulassen und als selbstständige Menschen ihren eigenen Weg gehen zu lassen, binden viele Eltern ihre Kinder an sich, oft noch lange nachdem sie das Elternhaus verlassen haben. Es gibt erschütternde Beispiele dafür, wie Menschen bis ins Alter hinein von Mama und/oder Papa gegängelt werden und kein einziges Mal ihr Leben selbst gestalten können. Die Methoden sind ebenso raffiniert wie vielfältig und bewegen sich zwischen den klassischen Extremen der nackten Dominanz („Du tust, was ich dir sage“) und des weinerlichen Selbstmitleids („Du kümmerst dich nicht um deine eigene Mutter“).

Ehepartner

Wo eine Ehe nicht wirklich freiwillig geschlossen wurde und sich nie zu einem Bund zweier selbstständiger Individuen entwickeln konnte, sondern von einem ungesunden Abhängigkeitsverhältnis ­geprägt ist, entstehen Bindungen in beiden Richtungen. In unterschiedlichem Gewand kommt es zu ­einem Sich-Festklammern: Partner A „braucht“ ständig Partner B, während B permanent die Rolle des „Kindermädchens“ für A spielt. Das klassische Pantoffelheldsyndrom hat viele Varianten und kümmert sich nicht viel um die Geschlechterrollen. Dabei ist der dominierende Partner im Grunde genauso unfrei wie der dominierte. Die beiden halten sich gegenseitig im Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Dergleichen verkrüppelt nicht nur ­unweigerlich die Persönlichkeit der Betroffenen, es beschneidet auch kräftig ihr Vermögen, außerhalb des trauten Heims kreativ und befreiend zu wirken. Das ganze Leben verläuft in der penibel abgezirkelten Bahn der „Vereinbarkeit mit der ehelichen Harmonie“. Der Egoismus, der in dieser Struktur gedeiht, versteckt sich gerne unter Schuldzuweisungen vom Typ „Was habe ich nicht alles für dich getan!“.

Geistliche Vorbilder

Der Bedarf an guten geistlichen Vorbildern ist groß, und oft müssen wir mit dem vorliebnehmen, was wir finden. Dies kann den Ich-schwachen christ­lichen Leiter in eine unwiderstehliche Versuchung führen, Menschen an sich zu binden, die ganz von ihrem geistlichen Vater/ihrer geistlichen Mutter abhängig werden. Während ein guter geistlicher Leiter immer zur Selbstständigkeit hin erzieht, wird hier dem „Jünger“ das Reifen verwehrt. Das Vorbild bindet ihn, bewusst oder unbewusst, mit unsichtbaren Fäden an sich: Wenn du mir deine ständige Bewunderung und Gehorsam gibst, leihe ich dir meinen Glanz und Status. Die Schuld an einer solchen Bindung kann primär beim Vorbild liegen, aber auch beim Jünger. Manchmal beruht sie weniger auf dem Bedürfnis des Vorbilds, Ja-Sager um sich zu scharen, als vielmehr auf der Angst des Jüngers davor, ein erwachsener Mensch mit eigener Identität zu werden.

Geistliche Heimat

Es ist eine Sache, ein geistliches Zuhause zu haben, wo man mit offenen Augen dient, die sowohl den Schatz als auch den Mangel sehen. Es ist eine andere Sache, diesem Zuhause „Besitzrechte“ auf meine Persönlichkeit und meinen Dienst zuzugestehen. Auch hier besteht die Bindung in einer schwer identifizierbaren Wechselwirkung zwischen ­Ansprüchen und Schuldgefühlen: Ich muss ja nun wirklich dankbar sein für all das, was mir in dieser Gemeinde/Gruppe/Bewegung gegeben wurde; dann ist es doch wohl nur recht und billig, dass ich mit meinem lebenslangen, loyalen Dienst antworte. Meine innere wie äußere Bewegungsfreiheit wird an ein Lehr- und Verhaltensmuster gekettet, das sorgsam darauf ausgerichtet ist, ja nicht die „Balance“ und „Zusammengehörigkeit“ zu stören.

Die Arbeit

So merkwürdig ist unsere Welt, dass etwas, das wir mit den besten Absichten schufen und das lange Zeit hindurch Großes ausrichtete, mit der Zeit ein Eigenleben bekommen kann, das es weit über seine ursprünglichen Ziele hinaus verewigt. Dieses Phänomen findet man in allen organisierten Formen menschlicher Tätigkeit, und die christliche Gemeinde ist – leider – keine Ausnahme. Wohl jeder einsichtige Politiker kann von gewissen Beschlüssen berichten, die „sich von selbst fassen“, die wie ein herrenloses Auto daher rollen und für die sich eigentlich niemand zuständig fühlt. Dergleichen Strukturen sind nicht ungewöhnlich in der Gemeinde und können Mitarbeiter, die die Gemeinde voranbringen wollen, massiv binden. Ein Knäuel aus Forderungen und Schuldgefühlen, Dankbarkeit und Kritik usw. hindert die Leiter daran, wirklich das zu tun, was ihrer inneren Sehnsucht und den faktischen Bedürfnissen der Menschen entspricht.
Man beachte dabei, dass die Befreiung aus diesen Bindungen keineswegs bedeuten muss, dass man aus der infizierten Beziehung ausbrechen muss. Viele haben sich übereilt in Scheidungen, Gemeindeaustritte usw. gestürzt, weil sie aus der Schädlichkeit der Bindung auf die Schädlichkeit der ganzen Beziehung schlossen. Von einer Bindung frei werden bedeutet nicht, von der entsprechenden Beziehung frei zu werden, sondern von dem, was die Beziehung behindert! Die Bindung vergiftet ja die Beziehung, sodass sie sich nicht auf gesunde, kreative Art entwickeln kann. Erst wenn die Bindung weicht, können die Menschen aufstehen und Strukturen schaffen, die das Leben befreien und fördern, anstatt es zu binden und zu ersticken. Oft bedeutet ein Ausbrechen aus der ehelichen oder gemeindlichen Beziehung nur, dass ich das Bindungsmuster aus der alten in eine neue Beziehung hineintransportiere.

Vergebung und Heilung

Wie kappen wir nun diese Seile, die uns binden? Hier ist es wichtig, alle drei Bereiche zusammen zu sehen: Sünden, Verletzungen, Bindungen sind eng miteinander verwandt und müssen gemeinsam bearbeitet werden. Vergebung, Heilung und Befreiung setzen einander voraus. Erst wenn ich meine Sünde und meine eigene Verantwortung für meine Probleme bekannt habe, kann ich Vergebung und Heilung empfangen. Erst wenn ich den festen Boden der Heilung und der gesunden Stillung meines inneren Hungers unter den Füßen zu spüren beginne, kann ich anfangen, die Bindungen zu sehen und zu kappen, die bisher die Leere in meinem Inneren ausfüllen sollten. Im seelsorgerlichen Gespräch können wir auch diese Einsichten in die direkte Fürbitte einmünden lassen, sodass Gottes Wort, das schärfer ist als ein zweischneidiges Schwert (vgl. Hebr 4,12), die unsichtbaren Seile durchtrennen kann. Die Erfahrung lehrt uns, niemals die befreiende Kraft des Evangeliums zu unterschätzen, bis in die kompliziertesten psychologischen Verwicklungen hinein. Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei (Johannes 8,36).
Die Berufung ist ein lebenslanger Heilungsprozess. Es geht darum, dass ich den Geist der Wahrheit all das, was meine Nachfolge behindern will, bloßlegen lasse. Es geht darum, dass ich Jesus meinen Erlöser sein lasse, der mir persönlich vergibt, mich heilt und mich befreit. Und es geht darum, immer tiefer den Vater kennenzulernen, der nicht nur in der Höhe und im Heiligtum wohnt, sondern auch bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind (Jesaja 57,15).

Magnus Malm ist schwedischer Journalist und Autor und leitet heute Einkehrzeiten innerhalb der lutherischen Kirche Schwedens.
Aus: Gott braucht keine Helden © 2008 SCM Verlagsgr. GmbH, Witten/Holzgerlingen (gekürzt)

Bild: ©odem1970 / istockphoto
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