Gott in meiner Abstellkammer – Platz schaffen für das Leben

Veronika Smoor –

Vor vielen Jahren hatte ich eine Freundin, deren Ein-Zimmer-Appartement in die Kategorie Dreckstall fiel. Beim Betreten ihrer Wohnung schlug mir eine Mischung aus Billigparfüm und Schimmelgestank entgegen. Müllsäcke stapelten sich im Wohnzimmer und dreckiges Geschirr moderte im Spülbecken. Die Aschenbecher quollen über und ihre Bettwäsche hatte sie, so nahm ich an, noch nie gewechselt. Dubiose Gestalten hingen Tag und Nacht bei ihr ab. Junkies, Techno-Freaks, Kampfhunde. Ich mochte meine Freundin, aber ich mochte sie nicht gern besuchen. Was ich damals nicht wusste: Sie war sehr einsam. Das hat sie mir erst später gestanden: „Zu der Zeit war ich ziemlich kaputt. Das wollte ich aber nicht zugeben und hab so getan, als wäre ­alles super. Ich hatte keine Perspektive, keine echten Freunde. Die Verwahrlosung meiner Wohnung war ein Abbild der Verwahrlosung meiner Seele.“ Bei diesen Worten, die sie mir vor einigen Monaten am Telefon sagte, musste ich schlucken. Das waren damals echt keine einfachen Zeiten. Und gleichzeitig danke ich Gott jeden Tag auf Knien, dass sie an ihrer Seele gesund wurde und ihr Leben sowie ihren Lebensraum geordnet hat. Wenn ich heute meine Freundin besuche (und ich besuche sie sehr gerne), dann betrete ich immer ein warmes, ordentliches Haus – mit von Kindern verursachten Kollateralschäden.
Allerdings gibt es bei ihr immer noch einen Ort, der nie aufgeräumt ist. Ihre Kellertreppe. Die ist so vollgestellt, dass ein Gang in ihren Keller lebensgefährlich ist. Ich kritisiere sie nicht. Ich habe nämlich auch so ­einen Ort in meinem Haus: die Abstellkammer. Ich greife mir immer nur schnell das heraus, was ich gerade brauche. Nach getaner Arbeit schmeiße ich den Besen, das Putzmittel, die Lappen ohne hinzusehen wieder zurück.

Im Seelendreckloch

Ich glaube, jeder von uns hat so ein kleines Dreckloch bei sich zu Hause, das wir ungern zeigen. Genauso besitzt meine Seele ihre kleinen Drecklöcher. An manchen Tagen versinke ich in ihnen, hineingespült von Versagen und Weltschmerz und Selbstmitleid. Das Abwasser meiner eigenen düsteren Gefühle und des Elends dieses Planeten schwappt über mich hinweg.
Gemessen an anderen Menschen erlebe ich kein großes Leid. Meine Kinder sind gesund und halbwegs intelligent. Wir haben keine Allergien und Phobien. Wir haben bisher jede Flugreise überlebt und unsere Eltern leben auch noch. Es gibt keinen Krebs, keine Süchte, Unfälle, psychische Erkrankungen und Schulden. Es kommt mir vor, als hätten wir bisher alle Brocken umschifft, die einem das Leben vor die Füße werfen könnte. Und doch hocke ich öfter in meinem Seelenloch und horche angespannt, was mir die Angst gehässig ins Herz flüstert: „Wenn du jetzt schon leidest, wie wirst du dann erst leiden, wenn deinen Kindern oder deinem Mann etwas passiert. Das überlebst du nicht.“ Das Schlimme ist nicht die Angst an sich, sondern dass ich ihr glaube. Ich suhle mich in Sorgen, obwohl nichts von meinen Befürchtungen bisher eingetreten ist. Aber das machen Sorgen mit uns, nicht wahr? Wir halten unsere Sorgen mit verkrampften Händen fest, so dass in ihnen alles, was gut und schön und lebenswert ist, keinen Platz mehr hat. Angst und Sorgen rauben unseren Glanz. Corrie ten Boom hat es so ausgedrückt: „Sich sorgen nimmt dem Morgen nichts von seinem Leid, aber es raubt dem Heute die Kraft.“
Meine Eltern haben ein Kind auf tragische Weise verloren. Ihren vierjährigen Sohn. Meinen Bruder, den ich nie kennenlernte, weil ich nach ihm in ein sorgloses Leben hinein geboren wurde. Ich wusste ja noch nichts von dieser Tragödie. Davon bekam ich in meinen Kinderjahren nur häppchenweise mit. Vielleicht wollten mich meine Eltern schonen. Vielleicht schnürte Trauer ihnen die Worte ab. Sie haben mich nie überbehütet, ihre Ängste nicht gezeigt, wenn ich freihändig auf meinem Kinderfahrrad den Berg hinuntersauste oder auf Bäume kletterte. Sie lebten weiter. Mit ­einem Loch, das in ihrer Mitte klaffte, aber unsere Familie nicht verschlang. Die Wahrheit ist: Wir werden nicht verschont bleiben von Verlust und Tod, von Krisenzeiten und Krankheiten. Diese Löcher gehören zum Leben, von Zeit zu Zeit werden wir hineinfallen. Der französische Schriftsteller Paul Claudel sagte einmal: „Gott ist nicht gekommen, das Leid zu beseitigen, er ist nicht gekommen, es zu erklären, sondern er ist gekommen, es mit seiner Gegenwart zu erfüllen.“
Ich glaube, das ist die einzige Antwort, die ich mir geben kann: Gott setzt sich zu uns in unsere Drecklöcher, er setzt sich zu uns in unsere Abstellkammern und auf unsere Kellertreppen. Er setzt sich in zugemüllte Wohnungen und ans Sterbebett. Er sitzt dort geduldig mit uns und es stört ihn nicht, wenn er dabei unseren Dreck abbekommt. Er hat mit seiner Kreuzigung das ganze Spektrum an menschlichem Leid am eigenen Leib und an eigener Seele erfahren.

In Krisenzeiten

Wenn wir Trauer und Krisenzeiten durchleben, können wir mittendrin oder ganz am Ende Gott finden. Vielleicht müssen wir zunächst durch die einsamsten aller einsamen Zeiten gehen und uns die Kehle wund schreien vor Schmerz. Die Attacken des Lebens müssen durchlebt werden, damit sich ein Weg Richtung Heilung und Hoffnung auftun kann.
Die schlimmsten körperlichen Schmerzen, die ich jemals erfahren habe, waren die Wehen. Ich werde über die Geburtsschmerzen jetzt keinen verklärenden Zuckerguss kippen. Sie sind, was sie sind. Unerträglich, zerreißend und so alt wie die Menschheit selbst. Natürlich war ich theoretisch bestens vorbereitet und gewillt, jede Wehe korrekt zu veratmen. Ich hatte eine Wassergeburt geplant und eine Menge beruhigende Klassik auf meinen iPod geladen. Aber ich landete am Ende auf der Geburtsliege und der iPod blieb in meiner Reisetasche. Mir war weder nach Musik noch nach ätherischen Ölen noch nach irgendwelchen Atem-Methoden zumute. Ich wollte nur jemanden anschreien. Was mich nach einigen Stunden überwältigte, war so enorm, dass ich alles vergaß, was ich über die Geburt gelernt hatte. Ich brüllte wie jemand, der bei lebendigem Leibe gehäutet wird. Nach acht Stunden war meine Stimme weg und mein Baby war da. Ich hielt dieses blau angelaufene, weinende Wesen im Arm und vergoss Tränen. Glück und Erleichterung. Der schreiende Schmerz war zu einem leisen Pochen verklungen. Hinterher sagte mir meine Hebamme, dass ich alles instinktiv richtig gemacht hatte. Vor allem das Schreien, das hätte mir Kraft fürs Pressen verliehen und verhindert, dass ich vor angespannter Schmerzvermeidung den Atem anhielt. Das hätte nämlich schlecht ausgehen können.

Im Auge des Sturms

Wir müssen manchmal eine Weile in unseren ­Löchern und im Schmerz sitzen und alles herausschreien und heraustrauern, damit Platz in uns wird für neues Leben. Damit wir am Ende durchlässiger werden für die Schönheit unserer Existenz und die Gegenwart Gottes. Paulus sagt es treffend: Deshalb geben wir nie auf. Unser Körper mag sterben, doch unser Geist wird jeden Tag erneuert (2 Kor 4,16).

Ich bin ein Typ, der das Gegenteil richtig gut kann: Mit verkrampfter Haltung und angehaltenem Atem durchs Leben zu gehen. Nach einem Streit straffe ich meine Schultern und blicke in die andere Richtung. An einsamen Tagen sage ich trotzig verletzt „Na und? Ich schaffe es alleine und brauche niemanden“. Enttäuschungen bügele ich mit einem falschen Lächeln glatt. Versagen verstecke ich. Ich möchte in diesen alltäglichen Kleinigkeiten lernen, meine Schmerzvermeidung loszulassen. Ich möchte nach einem Streit weinen und um eine Versöhnung kämpfen. An einsamen Tagen eine Freundin anrufen. Enttäuschungen betrauern und annehmen. Versagen zugeben. Ich weiß nicht, welche großen Krisen noch auf mich zukommen werden. Sicher ist, dass sie kommen werden, meine verschlossenen Türen aufreißen und alles durcheinanderwirbeln.
Im Auge des Sturms wartet jedoch immer Gott. Nicht, um mir das Leid abzunehmen, sondern um es mit mir zu durchleben. Das ist nicht unbedingt die Antwort, die ich auf die Leidfrage hören möchte. Aber das ist die einzige Wahrheit im Leid, die ich kenne. Als meine Schwester unseren Vater vor einiger Zeit fragte, warum er nach dem Tod seines geliebten Sohns nicht an Gott verzweifelte, antwortete er: „Wir hatten eine ganz simple Wahl: mit oder ohne Gott weiterzumachen. Und ohne war keine Option.“
Als ich jung war, habe ich den Worten meines ­Vaters keine große Beachtung geschenkt. Aber da wusste ich auch noch nichts vom Leben, auch wenn ich dachte, ich hätte alles verstanden. Erst jetzt beginne ich langsam zu verstehen. Und meinem Vater zu glauben.

Veronika Smoor ist Fotografin, Publizistin, Bloggerin. Sie lebt mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann bei Heilbronn.

Aus: V. Smoor: Heiliger Alltag. 2018/2020 SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

Bild: Cleaning the Closet ©Bart van Maarseveen / flickr
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