Die hat Mut! –  Eine seltsame Heilige von heute

Gerhard Schöne –

Lange haben wir in der Redaktion nach einem Vorbild zum Anfassen gesucht. Nach einem Menschen, der auf eine der vielen Nöte in unserer ­Gesellschaft heute reagiert, und sind dabei auf ­Irmela Mensah-Schramm (*1945 in Stuttgart) gestoßen. Sie arbeitete als Heilpädagogin an einer Berliner Schule für geistig Behinderte. Bekannt aber wurde sie durch ihre Unduldsamkeit gegenüber Aufklebern und Graffiti, die die Würde von Menschen und gesellschaftlichen Gruppen beleidigen. Radikal geht sie dagegen vor –  und hat es sich zur Gewohnheit gemacht, niemals ohne eine Tasche mit Fotoapparat, Bürsten, Pinseln, Lösungsmitteln und Farbe außer Haus zu gehen. Dabei stößt sie oft auf Unverständnis und ist Anfeindungen ausgesetzt. Neben Gewaltandrohungen erhielt sie auch Morddrohungen. Mehrere Verfahren wurden gegen sie eröffnet und wieder eingestellt. Sie hat den Mut, unbequem zu sein und so unsere Gesellschaft und Städte mitzu­gestalten und zu verändern.
Mit über 100 Ausstellungen zum Thema „Hass vernichtet“ und vielen Unterrichtsbesuchen dokumentiert sie ihre Arbeit, die sie ohne Unterstützung von staatlicher und anderer Seite durchführt. Der Liedermacher Gerhard Schöne ehrt sie mit dem Lied „Die couragierte Frau“ (red).

Die couragierte Frau

He, stell dir vor, du fährst S-Bahn.
Der Sitz ist etwas lädiert.
Du guckst durch dreckige Scheiben,
mit Filzstift beschmiert.
Die üblichen Sprüche:
„Stoppt Tierversuche, nehmt Juden!“
„Ali go home“ und so‘n Dreck.

Da fragt ‘ne Stimme ganz deutlich:
„Sie gucken wohl weg?
Sie bleiben so ruhig?!“
‘Ne Frau steht da und fragt weiter:
„Hat das hier niemand gesehn?
Wolln sie sich daran gewöhnen?
Lassen sie so was stehn?
Oder wolln wir‘s wegwischen?“

Und dann greift sie in die Tasche,
reicht dir‘n Lappen und ‘ne Flasche
und holt einen scharfen Schaber raus.
Ihr putzt los, die Leute stieren,
fangen an zu diskutieren.
Schließlich sagt sie: „Danke!“ und steigt aus.
Die Frau, die du da erlebt hast,
ist von Beruf Lehrerin.
Was andere schon übersehen,
das nimmt sie nicht hin
und macht‘s wieder sauber.
Die ganze geistige Scheiße,
die junge Nazis verschmiern,
die stinkt ihr doch zu gewaltig.
Sie kann nicht kapiern
wie viele das schlucken.
Und jeden Tag nach der Arbeit
rafft sie sich noch einmal auf
und inspiziert Häuserwände,
nimmt Gefahren in Kauf.
Denn manchmal wird’s brenzlich.

Hakenkreuze, Nazisprüche,
Juden-, Türken-, Negerflüche
wischt und kratzt und schrubbt sie gründlich weg.
Wird belächelt und beleidigt,
angegriffen. Sie beseitigt
unbeeindruckt weiter diesen Dreck.

Sie hört, das sei doch vergeblich,
stünde morgen eh wieder dran,
ein Fall von Selbstüberschätzung.
Doch sie glaubt daran,
dass es einen Sinn hat.
Denn wer sie sah auf dem Bahnhof,
wer mit ihr fuhr im Abteil,
fängt irgendwie an zu grübeln,
ist er halbwegs heil
und nicht schon völlig versteinert.
Der wird‘s zu Hause erzählen,
wird diskutieren bei Tisch.
Beim nächsten Hakenkreuz denkt er:
Ob ich es wegwisch?
Oder stell ich mich scheintot?

Danke, Gott, es gibt auf Erden
Menschen, die zum Anstoß werden,
die mich zwingend fragen: Bleib ich lau?
Oder werd ich endlich brennen,
mich mit Haut und Haar bekennen,
so wie diese couragierte Frau.

© Gerhard Schöne CD „Seltsame Heilige“
BuschFunk 1996

Bild: ©photocase / inkje
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