Brennpunkt-Seelsorge:

Der wunderbare Tausch – Grundvoraussetzung für die Umgestaltung in Christus

Christus in uns

Mit der Bekehrung am Anfang unseres Glaubensweges ist es nicht getan. Viele Christen leiden darunter, dass das, was mit Begeisterung begonnen wurde, immer mehr zum Erliegen gekommen ist. Der Glaubensschwund beginnt meist damit, dass man für das Gebet immer weniger Zeit findet; schließlich vergisst man es ganz und fällt wieder zurück in seine alten Gewohnheiten.

Bei unserem Glaubensweg geht es um einen Prozess der Umgestaltung in das Bild Christi: Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2 Kor 5,17). Christus wächst im Menschen heran und durchdringt mehr und mehr sein Inneres. Dieses Eingestaltet-Werden in Christus macht ihn zu einem Protagonisten der Veränderung. Das geschieht nicht aus eigener Kraft und hat nichts zu tun mit Selbstoptimierung: Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,18). Allerdings braucht es unser Mittun, damit die Gnade Gottes ihre verändernde Kraft in unserem Leben entfalten kann (vgl. 1 Kor 15,10). Frucht hervorzubringen geschieht nicht nebenbei. Es ist ein Übungs- und Reinigungsweg auf allen Ebenen.

Im Christentum gibt es einen zentralen Begriff für das gesamte Erlösungsgeschehen: Der heilige Tausch. Jesus Christus ist Mensch geworden, damit der Mensch wieder eins mit Gott wird. Dieser wunderbare Tausch ist die Ur-Tat des Christentums. „Gott sei Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden könne“, schrieb der Kirchenlehrer Gregor von Nazianz im vierten Jahrhundert. Ist das Blasphemie? Nein: Es ist der Versuch, die Botschaft des Evangeliums ernst zu nehmen und zu verstehen. Der gefallene Mensch wird wieder erhoben zu Gott. Das vollzieht sich geistlich in jedem Menschen, in dessen Leben Christus zunehmend zur beherrschenden Wirklichkeit wird. Zwischen Gott und Mensch besteht nicht einfach eine Ähnlichkeit, sondern eine wesenhafte Verbindung. Christus wächst in uns heran, zieht unsere Kräfte an sich, durchdringt unser Denken und Wollen, lenkt unsere Regungen und Empfindungen. So erfüllt sich das Wort: Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Rainer Harter zeigt in seinem Buch „Intimität mit Gott“ anschaulich auf, wie sich diese Verwandlung in einer innig-vertrauten Gottesbeziehung vollzieht: „In meinen Seminaren gebe ich oft den nicht ganz ernst gemeinten Rat, einmal eine rote Wollsocke und ein weißes T-Shirt gemeinsam bei 90°C zu waschen. Anschließend kann man bei Maschinen mit durchsichtigem Bullauge einen Prozess der Ähnlichwerdung beobachten: Der rote Wollstrumpf und das weiße T-Shirt tanzen einander umschlingend im Kreis, berühren sich immer wieder und als Ergebnis zieht man schließlich einen roten Strumpf und ein rosarotes T-Shirt aus der Maschine. Die Intimität zwischen den beiden hat eine Veränderung bewirkt. Auf dieselbe Weise werden auch wir umgestaltet: durch die Umarmungen der Liebe von einem Gott, der uns wieder heil machen möchte. Aus dieser Liebe heraus wurden wir geschaffen und das Ziel unserer Existenz ist es, sie zu erleben, sie zu erwidern und sie anderen Menschen zu schenken“ (S. 42).

Vom Unheil ins Heil

An Ostern feiern wir das Fest der Verwandlung: vom Unheil ins Heil, aus dem Dunkel ins Licht. Maria von Magdala wurde in ihrer Trauer Trost zuteil. Thomas wurde trotz aller Zweifel zum Glaubenden. In der Geschichte des Petrus geht es um Verleugnung und Liebe. Die Frauen am Grab kommen, um zu trauern und laufen voll Freude zu den Jüngern. Am Osterfest sprudelt die Kirche über vor lauter Freude über den Erlöser in dem schönsten Preisgesang: „O glückliche Schuld“. Das Paradoxon „glückliche Schuld“ besingt das Glück, das bei aller Sünde, Bosheit und Schuld zu uns kommt. Mein Unglück wendet sich ins Gegenteil. In das ausweglose Sündenelend bricht völlig unverdient die Erlösungsgnade ein. Durch das Erbarmen Gottes wird meine Schuld jetzt Anlass meines Glückes. Ein wunderbarer Tausch hat stattgefunden: Jesus Christus hat die Herrschaft des Todes ausgewechselt gegen die Herrschaft ­seiner Gnadenfülle (vgl. Röm 5,15 und 5,17).

Ich werde nie vergessen, wie vor etlichen Jahren mein geistlicher Begleiter mir nach einer Beichte sagte: „Deine Unvollkommenheit sagt mehr über die Liebe Gottes als deine Tugendhaftigkeit. Gott profitiert von deiner Sünde, weil er fähig ist, etwas Gutes daraus zu machen. Deine Schuld zeigt, wie sehr du von dem geliebt wirst, der für dich gestorben und auferstanden ist. Natürlich hasst Gott die Sünde, weil sie uns von Ihm trennt. Aber er nutzt unsere Sünden, da sie Ihm einerseits Gelegenheit geben, seine Barmherzigkeit zu zeigen und uns andererseits helfen, demütig zu bleiben und Verständnis für andere zu haben…“ 
Ein unerhörter Perspektivwechsel und ein überwältigendes Geschenk! Doch was schenken wir dem Herrn zurück? Geben wir Ihm das Beste zurück, was wir haben, uns selbst! Das wäre ein wirklich heiliger Tausch.

Vom Geben und Nehmen

Der Tausch ist eine Grundfigur des Daseins auf allen Ebenen: im Alltag, im Lebenskampf, im Gebet, in der Natur. Nichts funktioniert ohne Geben und Nehmen, ohne Hin- und Hergabe. Gott ist die Liebe, heißt es im 1. Brief des Johannes (1 Joh 4,8). Gott selbst ist eine Gemeinschaft der Liebe von Personen, eine Dreifaltigkeit, in der sich der Vater, der Sohn und der Heilige Geist in einander sich hingebender Liebe verströmen. Der Vater verschenkt sich selbst vorbehaltlos an den Sohn, und der Sohn erwidert dieses Geschenk mit unendlicher Liebe und Dankbarkeit. Ihre Beziehung ist so real und lebenspendend, dass sie auf ewig die dritte Person der Dreifaltigkeit, den Heiligen Geist, hervorbringt. In der berühmten Dreifaltigkeits­ikone von Andrej Rubljow wird das Wesen der Dreieinigkeit als kreisender Liebesaustausch auf unvergleichliche Weise sichtbar gemacht. Sie kehrt in jedem gläubigen Leben geistlich wieder – in seinem Verhältnis zu anderen Menschen und Gott. Immer ist es ein Übersteigen des Eigenen hin zum anderen, zum Ausbruch aus dem „Ego“ zum wahren „Ich“ der Liebe. Immer wird etwas gegeben, damit das Leben weitergeht. Am Ende stehen: mehr Leben, größere Liebe, echtere Beziehungen, letztlich erlöstes Dasein.

Die Liebe Gottes ist so mächtig, dass sie jeden Menschen, wenn ihm diese Liebe zur Erfahrung geworden ist, über seine natürlichen Grenzen hinaus opferbereit macht. Schauen wir hin zum Kreuz. Es zeigt uns: Das Leben lässt sich nicht leben ohne Opfer. Das Wort Opfer möchten viele am liebsten aus ihrem Wortschatz streichen. Doch Gott hat viel Größeres im Sinn als das Wohlbefinden jedes Einzelnen. Mit bloßen Augen können wir seinen übernatürlichen Plan nicht erkennen und verfolgen deshalb lieber die uns naheliegenden Ziele. Leider sind sie der Absicht Gottes oft entgegengesetzt. Wenn die Frage lautet: Soll ich ­einen schrecklichen Tod sterben oder nicht, dann ist die Antwort ein klares Nein. Wenn aber die Glaubensgewissheit anderer in Gefahr ist und ich mich fragen muss, ob ich bereit bin, alles zu tun, damit sie ihre Hoffnung nicht verlieren, fällt die Antwort anders aus. Wie wichtig ist also die übernatürliche Perspek­tive für unser Leben! Unzählige Märtyrer haben ihre Gottzugehörigkeit mit dem Leben bezahlt. Martyrien sind stellvertretende Opfer, und der Opfertod Christi findet in seinen Gliedern eine Fortsetzung, die das hinzufügt, was der christlichen Passion zur Vollendung noch fehlt (vgl. Kol 1,24).

Eltern bringen jeden Tag Opfer für ihre Kinder. Sie setzen ihre Lebenskraft dafür ein, damit die Menschheit eine Zukunft hat. Meine Großmutter pflegte beständig ihre Tagesarbeit Gott aufzuopfern. Von ihr habe ich gelernt: Was wir Gott im Vertrauen aufopfern – und sei es noch so klein –, schenkt Er uns um ein Vielfaches zurück. Jesus gibt alles, was er hat, und er gibt noch mehr: sich selbst. Gottes eigenes Wesen ist in Ihm sichtbar geworden (vgl. Tit 2,1). Mit einem Gebet antworte ich Ihm: Ich danke dir, dass du dich selbst mir schenkst. Dafür biete ich dir die Niedrigkeit meiner selbst an in der Gewissheit, dass du mit dem, was ich geben kann, zufrieden bist.

Von der grenzenlosen 
Liebe Gottes

Unser Auftrag als Christen ist es, an dem Platz, an dem wir stehen, diese göttliche Liebe bekanntzumachen und weiterzuschenken. Wenn die Heilige Schrift von der Liebe spricht, meint sie nicht die menschliche Liebe, die vergänglich ist, sondern einzig die Liebe, die in Gott entspringt und uns in Jesus Christus offenbart worden ist (1 Joh 4,10). Es ist die unwandelbare Liebe, die alles verwandelt. Sie fordert uns auf, sie in unser Herz aufzunehmen und aus ihr heraus zu leben. Die Mitbegründerin unserer Kommunität, Irmela Hofmann, lehrte uns: „Wer weiß, dass er von Gott gewollt und geliebt wird, der erkennt auch bald das Dritte, dass er gebraucht wird, um an andere das weiterzugeben, was er selbst empfangen hat.“ Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! (vgl. Mk 4,21-25) Jesus macht uns deutlich, dass denen, die nicht teilen, restlos auch das weggenommen wird, was sie noch haben (vgl. Mt 25,14-30).

Die Liebe – wie die Freiheit – ist keine Tausch­ware, deren Menge begrenzt ist. Sie ist die einzige Währung, die sich in dem Maße vermehrt, wie man sie verschenkt. Das erfahren wir am meisten in der Begegnung mit Jesus. In Joh 15,15b sagt er zu seinen Jüngern: Ich habe euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. Die Grundstruktur des Tausches ist immer ein Geben und Nehmen. Wo ein solcher Austausch nicht mehr stattfindet oder misslingt, kommt es zur Gewalt. Das erleben wir gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen auch in unserer Gesellschaft. Unsere Debattenkultur hat sich verschlechtert. Man hört einander nicht mehr zu und es scheint so, dass es in der öffentlichen Diskussion oft nur noch Freund oder Feind gibt.

Der unterbliebene Austausch hat auf Dauer verheerende Konsequenzen. Zwischen denen, die sich begegnen und austauschen sollten, entsteht ein Kommunikationsabbruch, in dessen Folge es zu Kontaktverlust, Verhärtung und Vereinzelung kommt. Das sind Vorstufen von Gewalt. In der Endzeitrede Jesu heißt es: Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet werden (Mt 24,12-13). Auch in unserem Alltag kommen wir nicht daran vorbei: Fakten sind wertlos geworden. Stattdessen Streit in der Gemeinde, Auftritt falscher Propheten, Missachtung der Gesetze. All dies sind unübersehbare Zeichen für die fehlende Gottesnähe in unserer Welt. Demgegenüber steht das höchste Gebot, das Jesus in Mt 22,34-40 zusammenfasst: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.‘ Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Hier finden wir den direkten Zusammenhang von mangelnder Liebe und Gesetzlosigkeit. Und wer „durchhält“ – wessen Liebe nicht erkaltet –, der wird selig.

Was also tun?

Der Kern des Problems scheint mir die wachsende Distanz zwischen den Menschen zu sein. Um den anderen zu sehen, ihn zu erfühlen und zu verstehen, muss sie überwunden werden. Laden wir ­andere an unseren Tisch ein. Tun wir etwas, damit auch Andersdenkende sich bei uns zuhause fühlen. Offene Gesprächsbereitschaft ist ein Zeichen, dass das Himmelreich unter uns ist. Hören wir dem anderen zu, hören wir in ihn hinein, versuchen wir, seinen Standpunkt zu verstehen. Lassen wir uns auf ihn ein und fragen nach, wägen seine Argumente ab und finden ggf. bessere, um ihn zu überzeugen. Hören wir damit auf, uns hinter vorgefertigten Antworten zu verschanzen. Wo uns das auch nur ansatzweise gelingt, kommen wir wieder in einen lebendigen Austausch.

In vielen Seelsorgegesprächen höre ich sinngemäß: „Das weiß ich ja alles schon, aber wie kann ich die Liebe Christi erfahren?“ Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, sagte: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.” Tatsächlich ist das Christentum eine Erfahrungs- und keine Buchreligion. Gottes Wort ist so lebendig, dass es uns immer zu einer Begegnung einlädt. Die Herausforderung kann darin liegen, sich täglich Zeit zu nehmen, um sich in die Gegenwart Jesu zu versetzen.

Wir könnten Ihn fragen: „Jesus, wie bist du jetzt gerade für mich da?“ Wenn wir einen Moment innehalten, können wir die erstaunliche Erfahrung machen, dass er uns im Inneren sofort darauf antwortet. Trauen wir unserer Wahrnehmung und beginnen wir ein Gespräch mit Ihm. Er spricht in einer Sprache zu uns, die jeder Mensch von Natur aus versteht. Diese Sprache der Liebe sagt uns heute und bis ans Ende unseres Lebens jeden Tag aufs Neue: Komm, zeig dich mir. Ich kann sehen, wo du dich gerade aufhältst. Ich kann hören, was dein Herz mir ängstlich verschweigen will. Ich kann verstehen, wie schwer so manches für dich ist. Ich bin froh, wenn du mir jetzt erlaubst, bei dir zu sein. Wenn du willst, kann ich etwas tun, um dir zu helfen.

Ich hoffe, wir hören alles, das uns seiner Liebe versichert, tief durchatmen lässt und entspannt. Jesus will, dass auch wir sagen können: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (Gal 2,20).

Ich schließe mit einem Gebet einer palästinen­sischen Karmelitin und Mystikerin, Mirjam von Abellin (1846–1878):

O Heiliger Geist,
als du den Jüngern
dein Licht erstrahlen ließest, wurden sie umgewandelt;
sie waren nicht mehr das,
was sie vorher waren;
ihre Kraft war erneuert,
die Opfer wurden ihnen leicht;
sie erkannten Jesus besser als vorher, da er noch unter ihnen weilte.
Quelle des Friedens, des Lichtes, komm, mich zu erleuchten.
Ich habe Hunger,
komm, mich zu ernähren;
ich habe Durst, komm, gib mir zu trinken; ich bin blind, komm, mich zu erleuchten; ich bin arm, komm, mich reich zu machen; ich bin unwissend,
komm und belehre mich!
Heiliger Geist, ich gebe mich dir hin. Amen!

Von Rudolf M. J. Böhm

Brennpunkt-Seelsorge 1 / 2022: Umgestaltet – Geistlich in die Tiefe wachsen
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