Brennpunkt-Seelsorge: Der Griff nach der Wahrheit, Johannes Hartl

Der Griff nach der Wahrheit

Johannes Hartl

Gefühl, Geschmack, Gebot – wo ist der Maßstab?

Die Orientierung an der Wahrheit ist etwas so Fundamentales für den Menschen, dass er sich selbst verliert, wenn er sie verliert. In der Philosophie wurden unterschiedliche Versuche gestartet, Wahrheit zu definieren. Das Problem ist, dass jede Definition immer schon die Möglichkeit von Wahrheit voraussetzt. Andersherum ist das auch die gedankliche Achillesferse aller radikal relativistischen Theorien. „Objektive Wahrheit gibt es nicht“ ist als Satz streng genommen unsinnig. Denn er selbst sagt ja etwas, das objektiv gelten will, also unabhängig von der momentanen Situation. Während manches kontextabhängig, kulturell geprägt und subjektiv ist, ist es ideologisch übergriffig, das über alles zu sagen. Auch wenn kein einzelner Mensch behaupten kann, die komplette Wahrheit zu erfassen, gibt es die Wahrheit.1 Dichter Matthias Claudius (1740-1815) schrieb an seinen Sohn Johannes:

Die Wahrheit, mein lieber Sohn, richtet sich nicht nach uns, wir müssen uns nach ihr richten.2

Es ist das exakte Gegenteil von dem, was Ideologen sagen. In seinem Aufsatz Was ist orthodoxer Marxismus? schreibt der ungarische Philosoph Georg Lukács (1885-1971): „Denn die Entscheidung steht vor der Tatsache.“ Wir stünden nicht wie Sklaven vor den Tatsachen, sondern wenn Tatsachen der Theorie widersprächen, antworte der echte Marxist: „Umso schlimmer für die Tatsachen.“ 3

Meine Wahrheit, deine Wahrheit

In einer Diskussion auf einer Social-Media-Plattform schreibt mir ein junger Mann, er wolle seine eigene Meinung nicht als wahr oder falsch bezeichnen. Denn die des anderen sei für den anderen ja auch wahr. Er begnüge sich damit, die Perspektive des anderen verstehen zu wollen. Dieses kleine Ereignis ging mir nach. Zunächst empfand ich die bescheidene, offene Haltung dahinter als irgendwie anrührend. Bei dem diskutierten Thema ging es auch um keine lebenswichtige Frage. Doch wie wäre es, wenn es tatsächlich um eine Frage großer ethischer Bedeutung gegangen wäre? Der Aussage „Keine Religion kann von sich behaupten, die wahre zu sein“ hätte er vielleicht zugestimmt. Doch auch der Aussage „Das Foltern politischer Gefangener abzulehnen oder für erlaubt zu halten ist beides gleich gut“? Wohl kaum.

Die Kategorie „Wahrheit“ gehört zum unersetz­lichen Wurzelwerk des Menschengartens. Ohne sie verdorrt der Sinn. Der Mensch kann nicht ohne dieses Wurzelwerk leben und das Leben stürzt ins Chaos und Haltlose. Als Kennzeichen des Menschenbilds der Moderne wurde neben dem geschichtlichen Gewordensein auch ein zweites genannt: Die Identität des Menschen besteht darin, seine Gefühle authentisch zu leben. Die Entstehung dieses Gedankens soll nachgezeichnet werden. Daraus versuche ich abzuleiten, warum wir heute Mühe mit den Kategorien „Gut und Böse“ haben und warum genau das dazu beiträgt, dass wir uns als Gesellschaft immer schlechter verstehen.

„Wenn es zu dir passt…!“

Ein Kennzeichen des neuzeitlichen Selbst ist der Fokus auf dem Individuum. Es geht um persönliche Entfaltung. Die Werbung zeigt eine Frau, die einen Sportwagen kauft. Sie kauft ihn aber nicht, weil sie eben sonst nicht zur Arbeit kommt, sondern weil dieser Wagen Ausdruck ihres Lebensgefühls ist. Freude am Fahren. Bei der Berufswahl fragen wir, welcher Beruf zu jemandem passt, welcher Lebensstil, welche Kleidung. Wenn jemand sagt, dass er eine Beziehung beendet, weil sie nicht mehr zu ihm passt, verstehen wir das. Wenn jemand nach Bali reist, um wieder in Kontakt zu seiner inneren Kraft zu kommen, finden wir das einleuchtend. Der kanadische Philosoph Charles Taylor verwendet für das moderne Selbstverständnis die Begriffe Expressivismus und Zeitalter der Authentizität.4 Während es in früheren Zeiten eher darum gegangen sei, seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen und äußere Regeln zu befolgen, wende sich das Bild seit dem 18. Jahrhundert. Von herausragender Bedeutung war dabei Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). In damals unerhörter Offenheit schildert er in seinen Bekenntnissen seine Kindheit. Die Absicht dahinter: Er möchte die wahre Natur des Menschen zeigen, indem er auf sein Innen zeigt.

Im kindlichen Urzustand sieht Rousseau die heile Natur, durch die Gesellschaft wird der Mensch verdorben. Der Gedanke wirkt aufs Erste nicht so gewichtig, doch er ist tatsächlich revolutionär. Die Quelle des Guten entspringe im Inneren des Individuums. Nicht im Befolgen äußerer Gesetze bestehe die Moral, sondern darin, authentisch zu sein. Neben die Rationalität der Aufklärung ist ein anderes, starkes Motiv getreten: das Gefühl. Bei den Dichtern der Romantik siegt es über die konventionelle Moral. Wie gutes Leben aussieht, das sage das innere Empfinden und gerade nicht irgendeine äußere Instanz.5 Es geht um authentische Gefühle und ihren authentischen Ausdruck.

Der noch lebende schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair Maclntyre kritisiert die Aufklärung: Sie sei bei dem Versuch gescheitert, eine Grundlage für die Moral zu schaffen. Stattdessen sieht er im Westen die irrige Annahme am Werk, hinter jedem Urteil über gutes oder schlechtes Handeln stehe nichts weiter als eine emotionale Vorliebe. Wenn ein Mensch zum Beispiel sagt „Es ist falsch, zu stehlen“, sagt er damit nichts anderes als „Ich fühle mich ungut bei dem Gedanken, ich mag das Stehlen nicht“. Maclntyre nennt diese Theorie Emotivismus.6 Sie wird seit Jahrzehnten massiv von den Produkten der Popkultur befeuert. In den Fünfzigern waren es Filme mit Marlon Brando oder James Dean als jugendlichem Rebellen, der sich gegen die spießige Gesellschaft durchsetzt. 1999 rappt HipHop-Legende Tupac Shakur Only God can judge me, und 2014 besingt Taylor Swift New York als den Ort, wo man jemand ganz anderes sein kann, und „you can want what you want“.7

Verletzte Gefühle und die Meinungsfreiheit

Was richtig ist und wie man leben soll, wird im Dunstkreis des Emotivismus zur Frage des persönlichen Geschmacks, des „Styles“. Das Problem: Wenn das Subjekt sich dadurch selbst definiert, wird alles, was die Anschauung oder den Lebensstil hinterfragt, als irrelevant ausgeblendet, oder noch schlimmer: zum persönlichen Angriff. Aber die Hinterfragung der eigenen Brille ist etwas ganz Wesentliches. Nur im Diskurs lernt man etwas. Nur durch das Hinterfragen kommt man der Wahrheit näher. Genau darauf haben aber viele keine Lust mehr. Im September 2020 erschien eine Studie in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, für die Studenten der Soziologie und Politologie danach befragt wurden, wie sie dazu stünden, wenn ein Wissenschaftler zu umstrittenen Themen wie der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie oder der Zuwanderung von ihren eigenen abweichenden Meinungen vertrete. Ein Drittel bis über die Hälfte der Befragten sprachen sich dezidiert dagegen aus, dass Menschen mit kontroversen Standpunkten an der Universität reden dürften. Ein Drittel der Befragten war sogar dagegen, dass deren Bücher in der Universitätsbibliothek ausgelegt werden könnten, und forderte deren Entfernung.8

Diese Ergebnisse deuten auf ein massives Problem hin: Nach dem Staatstheoretiker John Locke (1632-1704) ist die Freiheit, eine eigene Meinung zu haben und sie zu äußern, die Grundbedingung einer freien Gesellschaft.9 Wer eine eigene Meinung hat, riskiert damit aber, eine andere Person zu ärgern oder zu kränken. Und die Angst davor wird immer größer. Über 60% der 2019 in einer Studie Befragten gibt an, es gebe „viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind und welche eher tabu“.10 Das ist alarmierend. Die Wahrnehmung, dass bestimmte Meinungen nicht gesagt werden dürfen, hat leider auch ihre juristische Berechtigung. Der Jurist Paul Coleman untersucht weltweit Prozesse, die mit Meinungsfreiheit zu tun haben. Er sieht Hassrede-Gesetze auch in Europa auf dem Vormarsch. Auf den ersten Blick klingt das gut. Doch der Teufel steckt im Detail. Denn was ist Hass? In Polen droht eine zweijährige Gefängnisstrafe für die Verletzung religiöser Gefühle, in Dänemark die gleiche Haftstrafe für die „Beleidigung einer fremden Nation“. Genügt es, dass irgendwer sich durch Kritik an seiner Religion oder der Regierung seines Landes verletzt fühlt? Wie sollten so vage Formulierungen zu etwas anderem führen als zu Zensur oder Selbstzensur? In seinem Buch Zensiert hat Paul Coleman weitere neue Gesetze und Beispiele für ihre immer schärfere Anwendung gesammelt.11

Identitätsfalle

Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet. Deshalb braucht es den Diskurs. Eine Gesellschaft, die sich nach der Wahrheit ausrichtet, ist eine dialogbereite und sinnvolle Gesellschaft. Das klappt nur, wenn auch unbeliebte Meinungen geäußert werden dürfen. Weil im neuzeitlichen Menschenbild unsere Identitäten immer stärker durch individuelle Gefühle definiert werden, wird das Ich aber immer verletzlicher. Da kein Mensch ohne Anerkennung leben kann, sucht er sich eine Gruppe, in der er mit seiner Meinung anerkannt ist.

Der indische Nobelpreisträger und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Amartya Sen sieht eines der Probleme der heutigen Gesellschaft in der Tendenz, „die Menschen in Schubladen einer singulären Identität (zu) stecken“ und sie eben nicht als vielfältige Personen mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten, „sondern vor allem als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe oder Gemeinschaft“ zu sehen. Er bezeichnet das als „Identitätsfalle“.12 Diese Falle ist die konsequente Folge eines Menschenbilds, das sich nicht nach der Wahrheit ausrichtet, sondern nach persönlicher Empfindung. Wenn es nichts gemeinsam als wahr Erkanntes gibt, auf das beide sich berufen können, bleibt nur noch der Kampf einer Gruppe gegen die andere. Beobachtet man den politischen Diskurs, besonders in den Medien und „sozialen“ Netzwerken, kann man genau das beobachten. Es ist nicht gut, es ist nicht normal – es ist die Kehrseite der Verabschiedung von der Wahrheit.

Anmerkungen:
1  Zwei gut lesbare und konzise philosophische Widerlegungen des Relativismus und Konstruktivismus: Boghossian, Paul: Angst vor der Wahrheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013;  Nagel, Thomas: Das letzte Wort, Stuttgart: Reclam 1999
2  Zit. nach: Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe, München: C. H. Beck 2015, 34
3  Lukács, Georg: Was ist orthodoxer Marxismus?, in: ders., Werke II, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1968, 69
4  Zum „Expressivismus“: Charles Taylor: Quellen des Selbst, Suhrkamp 19961, 639/f.; zur „Authentizität“: ders.: Ein säkulares Zeitalter, Suhrkamp 20091, 788ff.
5  Diese Entwicklung beleuchtet auf anschauliche Weise: Trueman, Carl R.: The Rise and Triumph of the Modern Self, Wheaton: Crossway 2020
6 „Emotivism is the doctrine that all evaluative judgements and more specifically all moral judgements are nothing but expressions of preference, expressions of attitude or feeling, insofar as they are moral or evaluative in character.” (Maclntyre, Alasdair: After Virtue, London: Duckworth 1985, ll f.)
7   In ihrem Song Welcome to New York aus dem Album 1989.
8   Revers, Matthias/Traunmüller, Richard: Is Free Speech in Danger on University Campus? Evidence from a Most Likely Case. in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 72 (2020), 47 1-497.
9   So in seinem Essay über Toleranz von 1689, einem der Gründungsdokumente der modernen liberalen Gesellschaft.
10 Statista Research Department: Umfrage zur Meinungsäußerung in Deutschland 2019, Statista, 7.1 1.2019: https://de.statista.com/statistik/daten/srudie/ 1067 107/umfrage/umfrage-zur-meinungsaeusserung-in-deutschland/
11 Coleman, Paul: Zensiert: Wie europäische „Hassrede“-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen, Basel: Fontis 2020
12 Sen, Amartya: Die Identitätsfalle, München: dtv 2010, 185

Johannes Hartl, prom. kath. Theologe, gründete mit seiner Frau 2005 das Gebetshaus Augsburg. In seinen Büchern und Vorträgen versucht er, Rationalität und Spiritualität zusammenzubringen, und gibt der christlichen Community im deutschen Sprachraum wegweisende Impulse.

Aus: Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen, Herder Verlag, Freiburg 2021, S. 166-173.

Bild:©Ivan Chiosea/ Alamy Stock Foto
Brennpunkt-Seelsorge 2 / 2022: Wahrheit wagen
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