Augen auf – Nikodemus trifft Jesus

Hermann Klenk –

Auf den Straßen und in den Synagogen Galiläas wenden sich Menschen Gott zu – überrascht durch das Reden und Handeln des jungen Rabbi Jesus. Viele werden an Leib und Seele gesund. Mit seiner Botschaft: „Vertraut Gott. Er ist euch ganz nah“, ist er im verachteten Galiläa unterwegs. Wo immer er hinkommt, schöpfen die Menschen Hoffnung, dass Gott sie nicht vergessen hat.
Die geistlichen Führer des Volkes dagegen werden nervös und fragen sich: „Wer ist dieser Mann? Und woher hat er sein Wissen und seine Vollmacht? Und wie können wir ihn kontrollieren, damit uns die Führung über das Volk nicht entgleitet?“
Und so delegieren sie einen aus ihren Reihen. Der soll das Gespräch mit ihm suchen.
Nikodemus ist ein religiöser Mann und ein „Oberer“, ein Verantwortungsträger im Hohen Rat. Ein Mann, der das Gesetz nicht nur in und auswendig kennt, sondern es mit aller Kraft und Anstrengung umsetzen will. Einer, der es ganz genau nimmt und dessen Ziel es ist, Gott zu gefallen mit einem perfekten Leben. Ein Pharisäer eben.
Im biblischen Zeugnis steht nicht genau, wie alt Nikodemus war, aber wir können annehmen, dass er ein älterer und erfahrender Mann war, berufen in die religiöse und politische Führung seines Volkes. Dazu war ein bestimmtes Alter notwendig.

Nikodemus trifft Jesus

Warum bei Nacht? Bei Nacht (Joh 3,2) bedeutete nicht, ihn heimlich zu treffen, um von niemandem gesehen zu werden. Bei Nacht wurden vielmehr, nach jüdischer Sitte, die Gelehrtengespräche geführt. Bei Nacht war man auch weniger gestört durch Gäste, die zu bewirten waren, durch Aufgaben und Pflichten oder durch laute Geräusche, die das Leben ausmachten. Bei Nacht war Ruhe und Zeit.
Auch Jesus hat wichtige Gespräche mit seinen Jüngern bei Nacht geführt. Einmal sagt er zu ihnen: Was ich euch in der Finsternis (in der Nacht) sage, das redet im Licht (am Tag) (Mt 10,27). Also: Erzählt draußen, was ihr im Jüngerkreis von mir bei Nacht gehört habt.
In so einem Lehrgespräch wurden Fragen gestellt und Themen von allen Seiten erörtert, – auch durchaus konträr. Argumente und unterschiedliche Sichtweisen waren erlaubt und erwünscht.
Im Gelehrtengespräch zwischen Nikodemus und Jesus geht es darum, welche Menschen wohl in das Reich Gottes kommen werden. Nikodemus ist überzeugt, Jesus ist ein großer Lehrer, von Gott gesandt, der alles richtig macht und der mit Vollmacht sagen kann, wer hineinzukommen verdient und wer nicht. Jesu Antwort ist eine steile These: Nur wer neu geboren wird, kann überhaupt Gottes Handeln erkennen und in sein Reich hineinkommen! Nikodemus fragt zurück: Was willst du denn damit sagen? Wie kann man denn neu geboren werden, wenn man schon alt ist? Soll ich vielleicht noch einmal in den Mutterbauch kriechen? Nein, sagt Jesus, diese Neugeburt geschieht durch Wasser und Geist (Joh 3,1-21).

Wasser trifft Geist

Nikodemus hört, dass Menschen nur menschliches Leben und menschliche Gedanken hervorbringen können und somit jede Anstrengung, ­alle Gebote zu halten, bruchstückhaft und unvollkommen sein wird. Nur Wasser und Geist ermöglichen die neue Existenz.
Wasser und Geist waren in der jüdischen Tradition die Elemente des Lebens schlechthin. Schon ganz am Anfang wird berichtet, dass der Geist Gottes über den Wassern schwebte und dass Gott durch den Geist neues Leben aus dem Nichts schuf.
Wasser, das wusste Nikodemus, war auch zur Reinigung da, zum Abwaschen der Sünden, der „Ausrutscher“ und der verpassten Ziele, so wie Johannes das am Jordan gepredigt hatte und wie es uns heute noch in jeder Taufe zugesprochen wird.
Und der Geist? Der Geist schafft Neues. Der Geist Gottes spricht uns zu, wer wir in seinen Augen sind: Seine geliebten Söhne und Töchter, an denen er Freude hat. So hatte es Jesus selbst erfahren (Lk 3,22).

Leistung trifft Liebe

In Nikodemus beginnt es zu arbeiten: Also nicht unsere Anstrengungen, nicht unsere Tüchtigkeit, sondern allein Gottes unverdiente Liebe und Barmherzigkeit öffnet die Himmelstür?! Der Blick nach oben, die Hoffnung auf Gottes Rettung sind entscheidend, so wie damals bei Mose allein der Blick auf die erhöhte Schlange die Menschen vom Gift der Schlangenbisse geheilt hat.
Nikodemus muss sein gesamtes Denken umstellen. Er kennt bisher nur: Ohne Fleiß kein Preis. Lohn gibt es nach Leistung. Nur die Guten, die Tüchtigen, die Fehlerlosen dürfen auf Gottes Nähe und Wohlwollen hoffen.
Wir wissen nicht, wie viel Nikodemus schon am ersten Abend verstanden hat, aber wir wissen, dass Neues in ihm begonnen hat. Als kurze Zeit später der Hohe Rat beschloss, Jesus festzunehmen, da hat er sich laut zu Wort gemeldet (Joh 7, 50) und sich gegen eine vorschnelle und ungerechte Verurteilung ausgesprochen – und dafür viel Spott und Hohn geerntet.
Nikodemus hat die Chance ergriffen, als alter Mensch noch einmal umzudenken, ganz von vorne anzufangen. Nicht eigene Anstrengungen, nicht eigenes Gut – oder Tüchtig-Sein bringen das Heil und die Nähe Gottes, sondern Gott selbst, in seiner unbegreiflichen Liebe und Sehnsucht nach uns Menschen, hat die Tür zu seinem Reich aufgestoßen.
Nikodemus glaubt dem Rabbi, dass die Tür zum Himmelreich weder durch Fehlerlosigkeit noch durch Gesetzestreue aufgetan wird, sondern allein durch Vertrauen zu Gott. Später bekennt sich Nikodemus in Liebe und Dankbarkeit zu Jesus – über dessen Tod hinaus – indem er eine unfassbar große Menge kostbarer Salböle für dessen Begräbnis bringt und damit seinen guten Ruf und sein Leben riskiert (Joh 19,39).

Wenn ein Mensch, auch ein älterer, Sehnsucht nach Veränderung bekommt, so kann dies von innen nach außen geschehen, wie bei Nikodemus, oder auch von außen nach innen, wie Thomas Middelhoff: „Einst ein Star unter den deutschen Managern. Doch es ging steil bergab mit ihm, bis ins Gefängnis. Heute zeigt er sich geläutert“.
Dort sagt er: „Ich habe immer die Rolle des harten Managers gespielt. Tief in mir steckte aber ein Mensch mit Sehnsucht nach Ruhe, Geborgenheit und Frieden … Ich bin dankbar, dass Gott mich ins Gefängnis geführt hat. Denn dort vollzog ich den Bruch mit mir selbst. Ich bekam die Augen geöffnet … und Sehnsucht, in Gottes Nähe zu sein.“
Jede Erneuerung beginnt also damit, dass uns die Augen geöffnet werden und wir erkennen, dass sich Gott in Christus auf unsere Seite gestellt hat.

Hermann Klenk ist Architekt und gehört mit seiner Frau Friederike zur Gründergeneration der OJC-Großfamilie.

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